Deutschland 2030 - liegt ein 'Jahrzehnt der Einbürgerung' vor uns?

Ein Beitrag von Dr. Jan Schneider, Leiter des Bereichs Forschung

In den nächsten Jahren erfüllen voraussichtlich mehrere Millionen Ausländerinnen und Ausländer erstmals die Voraussetzungen für eine Einbürgerung. Das birgt Chancen für vertiefte Integration, vor allem in puncto Zugehörigkeit, politische Partizipation und Identifikation mit Deutschland.

Eine zeitgemäße Integrationspolitik hat ein Interesse daran, dass sich möglichst viele Ausländerinnen und Ausländer einbürgern lassen, die die entsprechenden Voraussetzungen erfüllen. Die Gründe liegen auf der Hand: Erst der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit ermöglicht Zugewanderten und ihren Nachkommen volle politische Partizipationsrechte, denn Ausländerinnen und Ausländer haben in Deutschland kein Wahlrecht; lediglich EU-Bürgerinnen und ‑Bürger können auf kommunaler Ebene an Wahlen teilnehmen. Nicht umsonst gilt jedoch das Wahlrecht als vornehmstes Privileg von Bürgerinnen und Bürgern in einer Demokratie, sorgt die Möglichkeit, an politischen Entscheidungsprozessen teilnehmen zu können, doch auch für eine identifikatorische Zugehörigkeit zum demos, dem Wahl- bzw. Staatsvolk.

Einbürgerungsmüdigkeit

Doch die Zahl der jährlichen Einbürgerungen stagnierte lange: Seit gut zehn Jahren liegt sie meist nur zwischen 100.000 und 110.000 – trotz riesigem Potenzial: Über fünf Millionen Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit leben heute bereits seit mehr als zehn Jahren in Deutschland und erfüllen damit eine zentrale Voraussetzung für die Einbürgerung. Nimmt man dies zum Maßstab, beträgt das jährlich ausgeschöpfte Einbürgerungspotenzial nur etwa zwei Prozent. Für einen Einbürgerungsanspruch müssen natürlich weitere Voraussetzungen erfüllt sein. Die deutschen Sprachkenntnisse müssen ausreichen, der Lebensunterhalt muss gesichert und Straffreiheit gewährleistet sein. Auch diese Kriterien werden von der ausländischen Bevölkerung mehrheitlich erfüllt. Es muss also weitere erhebliche Hürden geben.

So zeigen Angehörige von EU-Mitgliedstaaten in der Regel weniger Interesse an der Einbürgerung als Drittstaatsangehörige, obwohl sie anders als Letztere ihre „alte“ Staatsangehörigkeit behalten dürfen. Doch durch die Unionsmitgliedschaft genießen sie bereits fast alle gesellschaftlich-sozial relevanten Rechte, die deutsche Staatsangehörige haben. Nur unter den Staatsangehörigen der „jüngeren“ EU-Mitgliedstaaten wie Rumänien, Polen oder Bulgarien ist ein anderes Muster zu erkennen. Sie beantragen deutlich häufiger den deutschen Pass als andere
EU-Staatsangehörige.

Die Zahl der jährlichen Einbürgerungen stagnierte lange: Seit gut zehn Jahren liegt sie meist nur zwischen 100.000 und 110.000 – trotz riesigem Potenzial.

Dr. Jan Schneider leitet den Bereich Forschung beim SVR. Er studierte Sozialwesen, Politikwissenschaft und Soziologie und promovierte am Institut für Politikwissenschaft der Justus- Liebig-Universität Gießen über Beratungsprozesse in der deutschen Migrationspolitik.

Einbürgerungshürden

Unter den Zugewanderten aus Nicht-EU-Ländern ist die Einbürgerungsneigung stark herkunftslandspezifisch geprägt. Türkische Staatsangehörige in Deutschland lassen sich z. B. relativ selten einbürgern; das ausgeschöpfte Einbürgerungspotenzial liegt hier bei nur etwa einem Prozent. Das hängt primär damit zusammen, dass Türkeistämmige bei Einbürgerung in der Regel ihre türkische Staatsangehörigkeit aufgeben müssen – eine Staatsangehörigkeit, die mit einem vergleichsweise hohen Maß an Identitätsstiftung (und auch Loyalitätserwartung durch die türkische Regierung) einhergeht.

Das im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht verankerte Prinzip der Vermeidung von Mehrstaatigkeit kennt dabei nicht nur gegenüber Angehörigen der EU-Mitgliedstaaten und der Schweiz Ausnahmen: Bei einer Reihe von Drittländern, darunter Afghanistan, Brasilien, Eritrea, Iran, Marokko, Mexiko und Nigeria, wird eine Beibehaltung nämlich explizit hingenommen. Eine Entlassung aus der Staatsangehörigkeit dieser Länder ist nicht vorgesehen oder faktisch unmöglich. Auch in anderen Fällen werden Ausnahmen gemacht – etwa im Falle der USA, deren horrende Gebühren für die Entlassung aus der Staatsangehörigkeit eine unzumutbare Bedingung darstellen. Auch bei international Schutzberechtigten ermöglicht das deutsche Recht die Mehrstaatigkeit. Ihr Einbürgerungsinteresse ist dadurch vergleichsweise groß. Zudem wurden oder werden Flüchtlinge durch die Regime ihrer Herkunftsländer oftmals verfolgt – eine weitere Motivation für die Hinwendung zu einer neuen Staatsbürgerschaft. Entsprechend zeigen vor allem die wichtigsten Nationalitätengruppen von Flüchtlingen der letzten zehn Jahre (darunter afghanische, iranische, irakische und syrische Staatsangehörige) ein vergleichsweise großes Interesse an einer Einbürgerung. Das ausgeschöpfte Einbürgerungspotenzial liegt in dieser Gruppe durchweg bei über zehn Prozent.

Belebung durch Flüchtlingseinbürgerung

Die im Juni 2022 veröffentlichten Einbürgerungszahlen lassen aufhorchen: 131.600 Ausländerinnen und Ausländer haben 2021 den deutschen Pass erhalten – rund 20 Prozent mehr als in den Vorjahren üblich. Allerdings ist nicht das allgemeine Einbürgerungsinteresse sprunghaft gestiegen. Vielmehr liegt ein wichtiger Grund darin, dass rund 19.100 syrische Staatsangehörige eingebürgert wurden – fast dreimal so viele wie 2020 (6.700) und rund fünfmal so viele wie 2019 (3.860). Betrachtet man nun die Einbürgerungsneigung von Flüchtlingen und die Zuzugszahlen der vergangenen Jahre und schließt daraus auf die Zukunft, dann ist von erheblichen Steigerungen insbesondere ab 2022 auszugehen. In den Jahren 2023–2025 könnte die absolute Zahl an Einbürgerungen pro Jahr durchaus rund 50 Prozent über dem sonst „üblichen“ Wert von rund 110.000 liegen – nicht zuletzt, weil viele syrische Flüchtlinge die deutsche Staatsangehörigkeit beantragen werden.

Projektionen sind immer mit Unsicherheiten verbunden. Doch selbst zurückhaltende Annahmen deuten auf dringenden Handlungsbedarf hin: Bereits jetzt stellen Behörden vielerorts fest, dass die Nachfrage nach Beratungsgesprächen steigt und mehr Einbürgerungsanträge gestellt werden. Gleichzeitig ist die Personaldecke extrem dünn. Kommunale Einbürgerungskampagnen drohen schon jetzt ins Leere zu laufen. Eine Expertise des wissenschaftlichen Stabes aus dem Jahr 2021 verdeutlicht, dass insbesondere die Einbürgerungsbehörden auf Landesebene und in den Kommunen über mannigfaltige Möglichkeiten verfügen, das Einbürgerungsgeschehen positiv zu beeinflussen. Dazu gehören das proaktive Werben unter potenziell Einbürgerungsberechtigten durch direkte Ansprache, die Bereitstellung zuverlässiger Informationen über Möglichkeiten und Bedingungen einer Einbürgerung, die Verschlankung des Antragsprozesses u. a. durch die digitale (Vor-)Prüfung der Einbürgerungskriterien im Einzelfall („EinbürgerungsQuickCheck“) sowie die Vernetzung der Einbürgerungsbehörden mit anderen Ämtern und Institutionen vor Ort (etwa in den Bereichen Bildung, Wirtschaft und Wissenschaft).

Bereits jetzt stellen Behörden vielerorts fest, dass die Nachfrage nach Beratungsgesprächen steigt und mehr Einbürgerungsanträge gestellt werden.

Herausforderungen für die Behörden

Doch es gibt strukturelle Hürden, zu deren Beseitigung nicht zuletzt auch Bund und Länder ihren Beitrag leisten müssen. So bedarf es dringend einer Aktualisierung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Staatsangehörigkeitsrecht, die seit über 20 Jahren nicht mehr erfolgt ist. Nur dadurch ließe sich eine einheitliche Anwendung des Staatsangehörigkeitsrechts erreichen und ein bundesweites digitales Prüfungs- und Antragssystem aufsetzen. Auch für die Einarbeitung der vielen zusätzlich benötigten Mitarbeitenden in den kommunalen Behörden ist eine aktualisierte Verwaltungsvorschrift essenziell. Allerdings ist vielerorts die Personalgewinnung an sich bereits ein Problem: Den Kommunalverwaltungen fällt es immer schwerer, freie Stellen in den Ausländer- bzw. Einbürgerungsbehörden zu besetzen – selbst wenn Mittel dafür zur Verfügung stehen.

Die für Staatsangehörigkeitsfragen zuständigen Politikerinnen und Politiker sowie Behördenleitungen in Bund, Ländern und Kommunen sollten darüber hinaus weitere Skaleneffekte in den Blick nehmen, wenn sie angemessen vorbereitet sein wollen.

Corona-Pandemie als Bremse

Die in den vergangenen zwei Jahren ergriffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie haben in den Behörden zu weniger Beratungsterminen und nachlassenden Einbürgerungszahlen geführt: weil das Stammpersonal der Einbürgerungsbehörden teilweise bei der Kontaktnachverfolgung und anderen ordnungspolitischen Maßnahmen aushelfen musste oder weil der Krankenstand erhöht war.

Gleichzeitig hatten Antragstellende aufgrund der Restriktionen Schwierigkeiten, die zur Einbürgerung benötigten Unterlagen wie Sprach- und Integrationstestzertifikate oder Botschaftsdokumente zu beschaffen. Neben der hohen Einbürgerungsneigung unter syrischen Staatsangehörigen waren punktuell daher auch Nachholeffekte aus dem ‚Lockdown-Jahr‘ für die jüngsten Steigerungsraten bei den Einbürgerungen verantwortlich. Vielerorts wurden 2021 und im ersten Halbjahr 2022 deutlich mehr Neuanträge gestellt, die zusätzliche Kapazitäten in den Behörden erfordern.

Die geplanten Ampel-Reformen dynamisieren das Einbürgerungsgeschehen

SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP haben sich in ihrem Koalitionsvertrag auf weitreichende Reformen in diesem Bereich geeinigt. Ihr Ziel: ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht. Bei den Vorschlägen handelt es sich größtenteils um Liberalisierungen, die den Beratungsbedarf und das Antragsaufkommen – und damit die Arbeitsbelastung in den kommunalen Einbürgerungsbehörden – zumindest kurzfristig massiv steigern dürften. So soll künftig eine Einbürgerung in der Regel nach fünf statt bisher acht Jahren möglich sein, bei besonderen Integrationsleistungen bereits nach drei statt bisher sechs Jahren (zu den Plänen der Bundesregierung vgl. auch den Artikel von Prof. Dr. Bendel und Prof. Dr. Thym auf Seite 26–33).

Gleichzeitig soll die Mehrfachstaatsangehörigkeit grundsätzlich toleriert werden. Diese Kehrtwende könnte nach Inkrafttreten der Reform zu einem regelrechten ‚Run‘ auf die Einbürgerungsämter führen. Vor allem für bereits lange in Deutschland lebende Türkinnen und Türken könnte damit die entscheidende Barriere fallen, die sie bis dato von einem Einbürgerungsantrag abgehalten hat.

Verwaltungen jetzt ertüchtigen

Um das bevorstehende ‚Jahrzehnt der Einbürgerung‘ integrationspolitisch zu einem Erfolg zu führen, bedarf es erheblicher Anstrengungen durch Politik und Verwaltung sowie weiterer Schlüsselakteure in der Gesellschaft: Es gilt, die Anerkennung und Wertschätzung von Vielfalt zu befördern und die neu Eingebürgerten gemeinsam in die politische Gemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland aufzunehmen, zum Beispiel im Rahmen von offiziellen Einbürgerungsfeiern. Es gilt aber auch, Enttäuschungen und Frustration zu vermeiden – aufseiten der Antragstellenden über lange Wartezeiten, intransparente Verfahren und als „willkürlich“ wahrgenommene Entscheidungen; aber auch bei Behördenmitarbeitenden über eine unzureichende Personaldecke und damit verbundene Überforderung.

Ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht verlangt auch eine moderne Einbürgerungsverwaltung, die bundesweit einheitlich und nachvollziehbar handelt, sich zeitsparender digitaler Prozesse bedient, aber dennoch genügend Personal einsetzt, um bürgernah zu beraten und in angemessener Frist über Einbürgerungsanträge zu entscheiden.


Erfolgsfaktoren einer gelingenden Einbürgerungspraxis

Die Expertise wurde im Auftrag der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration erstellt. Anhand von sieben kommunalen Fallbeispielen wird darin untersucht, welche Faktoren das Einbürgerungsgeschehen beeinflussen und mithilfe welcher Ansätze und Strategien die zuständigen Behörden es stimulieren können.

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