Wissenschaftliche Politikberatung durch den SVR

Kontinuität im Wandel: Interview mit der SVR-Vorsitzenden Prof. Dr. Petra Bendel

Nach mehr als zehn Jahren als Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration setzt der SVR seit 2021 seine Arbeit als Sachverständigenrat für Integration und Migration fort. Was war der Anlass dafür?

Der SVR ist im Jahr 2008 aus einer Initiative mehrerer Stiftungen hervorgegangen (Link zur Entstehungsgeschichte). Damals wurde die Debatte um Zuwanderung und Integration häufig emotionalisiert und ideologisch geführt. Die beteiligten Stiftungen wollten einen Beitrag leisten und wissenschaftliche Expertise und Fakten anbieten, auf deren Grundlage Meinungen gebildet und Entscheidungen fundiert getroffen werden können. Also haben sie den Sachverständigenrat deutscher Stiftungen gegründet. Diese Initiative war damals ein Novum und gleichzeitig von vornherein als befristete Aktivität geplant. Es ging den Stiftungen darum, als Impulsgeber für den sozialen Wandel bestehende Herausforderungen zu identifizieren und erfolgreiche Modelle für deren Bearbeitung zu erproben. Die Bundesregierung hat dann im Jahr 2020 beschlossen, den SVR auf Basis eines Einrichtungserlasses zu verstetigen. Der SVR setzt damit als institutionell vom Bund gefördertes Gremium seine Arbeit fort, und zwar in bewährter unabhängiger Weise.

Welche Bedeutung hat die Verstetigung für die wissenschaftliche Arbeit des SVR?

An unserer Arbeitsweise an sich hat sich nichts geändert: Wir Sachverständige entscheiden gemeinsam, welche Themen wir in welcher Weise in unserem Hauptprodukt, dem SVR Jahresgutachten, behandeln. Der Unterschied liegt vielmehr darin, dass nun auch politisch anerkannt wurde, dass die Begleitung durch wissenschaftliche Expertise im Handlungsfeld der Integrations- und Migrationspolitik wichtig ist und dass dies in Einwanderungsländern auch so bleibt. Deutschland ist seit Langem ein Einwanderungsland. Dass dies nun auch im Koalitionsvertrag einer Bundesregierung steht, freut uns sehr. Diese Anerkennung einer Realität war schon lange überfällig. Jeder vierte Mensch bei uns hat eine eigene oder familiäre Zuwanderungsgeschichte. Davon profitiert die deutsche Gesellschaft, was allein der Blick auf den demografischen Wandel deutlich zeigt. Es bleiben aber Herausforderungen: Wie können Menschen unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem Status gleichberechtigt an unserer Gesellschaft teilhaben? Wie kann Bildungserfolg für Kinder ermöglicht werden, unabhängig davon, welche Bildungsvoraussetzungen ihr Elternhaus ihnen mitgibt? Wie können wir unserer flüchtlingsrechtlichen Verantwortung in Europa und der Welt gerecht werden? Das sind wichtige und teilweise heftig diskutierte Herausforderungen, für die es pragmatische und gute Lösungen braucht.

Der Sachverständigenrat wird nun vom Bund gefördert, das Bundesministerium des Innern und für Heimat stellt dafür Mittel aus seinem Haushaltstitel zur Verfügung. Wie wird dabei die Unabhängigkeit des Gremiums gewährleistet?

Die Unabhängigkeit des SVR ist im Einrichtungserlass der Bundesregierung verankert: Wir sind in unserer Arbeit allein wissenschaftlichen Kriterien verpflichtet. Dies steht aber nicht nur auf dem Papier, sondern ist auch in der Governance der SVR gGmbH sichtbar. So ist das Sachverständigengremium kein Organ dieser gGmbH. Das heißt, wir sind auch gegenüber der Alleingesellschafterin – dem Bund in Gestalt des Bundesministeriums des Innern und für Heimat (BMI) – nicht berichtspflichtig. Diese Konstruktion gab es im Übrigen auch zur Zeit der Stiftungsfinanzierung schon und sie hat sich bewährt. Die Unabhängigkeit ist natürlich aus Sicht von uns Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zentral, sonst würden wir nicht im SVR mitwirken. Wir sind schließlich nicht auf den SVR angewiesen, sondern haben Professuren an Universitäten im Inland wie im Ausland inne. Es gibt diesbezüglich zudem ein gemeinsames Verständnis von SVR und Politik: Nur ein unabhängiger SVR kann auch ein guter Ratgeber sein. Unsere Aufgabe ist es, dass wir uns relevante Themen aussuchen, sie wissenschaftlich basiert bearbeiten und dann möglichst Optionen für politisches Handeln daraus ableiten. Danach ist die Politik gefragt. Sie muss entscheiden, ob und wie sie unsere Empfehlungen aufgreifen will. Es gibt hier insofern eine wechselseitige Unabhängigkeit, die auf unseren unterschiedlichen Rollen basiert – und die wird auch respektiert. Diese Erfahrungen nehmen wir aus einem Jahr nach der Verstetigung mit.

Nun wurde auch politisch anerkannt, dass die Begleitung durch wissenschaftliche Expertise im Handlungsfeld der Integrations- und Migrationspolitik wichtig ist. 

In den vergangenen Jahren hat die wissenschaftliche Beschäftigung mit Themen der Integrations- und Migrationspolitik deutlich zugenommen. Was unterscheidet die Arbeit des SVR von der Arbeit anderer Einrichtungen?

Das Alleinstellungsmerkmal des SVR ist es, dass in ihm Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Universitäten und Disziplinen zusammenkommen mit dem expliziten Mandat der Politik, sie – und im Übrigen auch die Öffentlichkeit – wissenschaftsbasiert zu beraten. Wir erstellen in der gemeinschaftlichen Beratung unsere Jahresgutachten und das Integrationsbarometer und verantworten diese Publikationen als Gremium. Wir bringen unterschiedliche Perspektiven ein und ringen um Standpunkte und Empfehlungen.

Manchmal wird beklagt, dass die Wertschätzung für unabhängige wissenschaftliche Beratung verloren gegangen sei. Wie sehen Sie das?

Ich kann diese Meinung nicht teilen. Der Bedarf an wissenschaftlich fundierter Beratung, an der Bereitstellung solider, methodisch nachvollziehbarer und überprüfbarer Informationen nimmt zu. Wir sehen das auch an den Anfragen, die wir von politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern erhalten. Zum Beispiel werden wir gebeten, konkrete Gesetzesvorhaben zu kommentieren. Dabei prüfen wir, welche Kriterien aus der wissenschaftlichen Empirie sinnvoll abgeleitet werden können, wie andere Akteure sich zu der Fragestellung verhalten und welche Erfahrungen übertragbar sind. Es gilt, Rahmenbedingungen zu eruieren, gute Praxisbeispiele zu finden und auf ungewollte Konsequenzen aufmerksam zu machen. So hat der SVR zum Beispiel an den Beratungen zum Fachkräfteeinwanderungsgesetz auf Bundes‑ oder auch zu verschiedenen Integrationsgesetzen auf Länderebene mitgewirkt. Das hat unmittelbar Einfluss auf die politische Entscheidungsfindung. Gleichzeitig haben wir festgestellt, dass wir auch mit der Konsolidierung von Wissensständen und der Ausarbeitung von Empfehlungen einen wichtigen Beitrag leisten können. Wir nutzen die Vorteile der wissenschaftlichen Arbeitsweise, um nach dem jeweils besten Zugang und der besten Methode zu suchen. Dabei zweifeln wir stets – Ist-Zustände werden infrage gestellt. Vor allem aber ist klar, dass Befunde immer nur vorläufig sein können: Ergebnisse werden in der Wissenschaft ständig überprüft und wenn nötig ergänzt oder revidiert. Es gehört also auch zu unserer Arbeit, über Grenzen des Wissens Transparenz herzustellen.

Der Bedarf an wissenschaftlich fundierter Beratung, aber auch an der Bereitstellung solider, methodisch nachvollziehbarer und überprüfbarer Informationen nimmt zu.

2021 wurde ein neuer Bundestag gewählt. Was haben Sie den politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern mit auf den Weg gegeben?

Wir haben wie in den vorangegangenen Legislaturperioden zunächst die Frage gestellt, was aus unserer Sicht die integrations- und migrationspolitischen Aufgaben sind, und eine entsprechende Agenda veröffentlicht. So ist auch im Zuge der Corona-Pandemie deutlich geworden, dass eine chancengleiche Teilhabe aller Menschen in Deutschland ganz und gar nicht selbstverständlich ist. Hier brauchen wir mehr Programme und Initiativen zum Beispiel in Bezug auf Einbürgerung sowie im Bildungsbereich. Auch sollten wir jetzt das im März 2020 in Kraft getretene Fachkräfteeinwanderungsgesetz konsequent umsetzen und weiter nachbessern. Die Qualifikationsnachweise für einwandernde Fachkräfte sind aber viel zu intransparent und kompliziert. Entscheidend ist deshalb, dass wir Anerkennungsverfahren vereinfachen und beschleunigen sowie die Möglichkeiten zur Nachqualifikation ausweiten. Für die Flüchtlinge brauchen wir eine gemeinsame europäische Asylpolitik, mit der der Flüchtlingsschutz gewährleistet und das Solidaritätsprinzip umgesetzt werden kann. Auch die Entwicklungen in Afghanistan, an der EU-Grenze zu Belarus sowie die anhaltend menschenunwürdige Situation für Migrantinnen und Migranten auf den griechischen Inseln haben gezeigt, dass Kooperation auf europäischer und internationaler Ebene unabdingbar ist. Viele unserer Empfehlungen wurden im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung dann auch aufgegriffen.

Welche sind das?

Im Bereich der Integrationspolitik gibt es viele Punkte, die Empfehlungen des SVR entsprechen. So wird die Notwendigkeit umfassender Diversitätsstrategien hervorgehoben, staatliche Institutionen sollen diversitätssensibler gestaltet und benachteiligte Schulkinder stärker unterstützt werden. Flüchtlinge sollen unabhängig von ihrer Bleibeperspektive mehr Zugang zu Sprachkursen und zum Arbeitsmarkt erhalten – das ist ein klares Bekenntnis zur Integrationsförderung, das wir unterstützen. Auch die vom SVR vorgeschlagene „Turboeinbürgerung“ sowie die grundsätzliche Zulassung der doppelten Staatsangehörigkeit soll umgesetzt, ein vom SVR vorgeschlagener Generationenschnitt geprüft werden. Das sind einige Vorhaben, die unserer Meinung nach die Integration Zugewanderter fördern und den Zusammenhalt in Deutschland damit nachhaltig verbessern können. In puncto Zuwanderung gibt es dagegen noch Konkretisierungsbedarf. Hier wünschen wir uns verlässliche Zahlen, was den Umfang von Resettlement-Kontingenten angeht. Die Überlegungen, die in anderen Ländern angestellt werden, Asylverfahren an Drittstaaten auszulagern, und die der Koalitionsvertrag als Prüfpunkt aufgreift, sehen wir aufgrund schwerwiegender rechtlicher, praktischer und politischer Fragen kritisch. Dass die Zurückweisung an den Außengrenzen beendet und die Seenotrettung im Mittelmeer unter regionalem Ansatz staatlich koordiniert werden soll, unterstützen wir jedoch nachdrücklich. Das fordern wir seit Langem: Das Non-Refoulement-Prinzip sowie das Verbot der kollektiven Ausweisung an den europäischen Außengrenzen müssen wieder geachtet, Rechtsbrüche konsequenter verfolgt und sanktioniert werden.

Wir brauchen Zuwanderinnen und Zuwanderer. Viele Stellen können ohne sie nicht mehr besetzt werden.

Im Koalitionsvertrag steht auch: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Was bedeutet das für die künftige Integrations- und Migrationspolitik?

Es ist zunächst ein Signal und die Anerkennung einer Realität – auch gegenüber den Menschen, die als Zugewanderte seit Jahrzehnten ihren Beitrag zur Gestaltung des Landes leisten. Wir leben in einem sehr vielfältigen Land und haben dies deshalb in unserem Jahresgutachten 2021 zum Anlass genommen, unseren Umgang mit Diversität in Deutschland genauer zu betrachten. Dabei ist aufgefallen, dass es viele Fortschritte gibt sowie eine überwiegend positive Haltung innerhalb der Bevölkerung. Unsere Befragungen im Rahmen des letzten Integrationsbarometers haben ergeben, dass Menschen in Deutschland ganz überwiegend Diversität begrüßen und diese als Bereicherung empfinden. Zudem ist auch im Zuge der Corona-Pandemie klargeworden: Wir brauchen Zuwanderinnen und Zuwanderer. Viele Stellen können ohne sie nicht mehr besetzt werden – in der Industrie, im Gesundheitssektor oder Dienstleistungsbereich. Es ist also auch in unserem Sinne, ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in Deutschland zu ermöglichen.

Die Fragen stellte Meike Giordono-Scholz, Kommunikationsmanagerin in der SVR-Geschäftsstelle.


Foto: SVR/Michael Setzpfandt

Prof. Dr. Petra Bendel ist seit 2016 Mitglied des Sachverständigenrats und seit Juli 2019 dessen Vorsitzende. Sie ist Professorin für Politische Wissenschaft und Leiterin des Forschungsbereichs Migration, Flucht und Integration (MFI) des Instituts für Politische Wissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören das deutsche und europäische Flüchtlings- und Asylsystem sowie die Integrationspolitik auf verschiedenen politischen Ebenen.


SVR-Agenda für eine nachhaltige Integrations- und Migrationspolitik. Impulse für die Legislaturperiode 2021–2025

Der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) hat anlässlich der nach den Sondierungsgesprächen anstehenden Koalitionsverhandlungen im September 2021 eine Agenda für die neue Legislaturperiode vorgelegt. Die Gestaltung der vielfältigen Gesellschaft in Deutschland und die Stärkung des Zusammenhalts sind wichtige Prioritäten. Deshalb fordert der SVR, den Bildungserfolg von sozialer Herkunft zu entkoppeln sowie eine gleichberechtigte wirtschaftliche und politische Teilhabe zu fördern. Zudem müsse das Fachkräfteeinwanderungsgesetz konsequent umgesetzt und der Flüchtlingsschutz gewährleistet werden.