Wissenschaftsbasierte Politikberatung in bewegten Zeiten

Erfahrungsbericht aus über sechs Jahren SVR

Interview mit der SVR-Vorsitzenden Prof. Dr. Petra Bendel und dem Stellvertretenden Vorsitzenden Prof. Dr. Daniel Thym, die Ende 2022 aus dem SVR ausscheiden.

2016 hat Ihre Amtszeit begonnen – was hat Sie damals thematisch besonders beschäftigt?

Prof. Bendel: Es war gewiss die besonders starke Fluchtzuwanderung, die unsere Arbeit am Anfang sehr geprägt hat. Es gab viele und teilweise hitzig geführte Debatten, ob und wie Deutschland diese Herausforderungen meistern kann, und eine ganze Reihe neuer Gesetzesinitiativen, die der SVR auch mit beraten hat. Zudem bestand auch auf europäischer Ebene ein großer Diskussionsbedarf – der bis heute anhält: Es wurde um eine gemeinsame Migrations- und Asylpolitik gestritten. Schon damals war klar, dass sie dringend reformiert gehört.

Prof. Thym: Das Streben nach einer „europäischen Lösung“ in der Flüchtlingspolitik war deshalb einer unserer zentralen Inhalte. Die Arbeit mündete 2017 in die Veröffentlichung eines Jahresgutachtens mit Empfehlungen zu Mechanismen zur flexible Solidarität, einer pragmatischen Rückkehrpolitik sowie Maßnahmen zur Förderung von Integration. Wir wollten zeigen, dass Migrationspolitik ausgewogen sein muss, wenn sie nachhaltig sein will. Dass sich die EU in dieser Frage einigen kann, hat sich bisher aber als illusorisch erwiesen. Vielleicht klappt es jedoch dieses Jahr besser als beim letzten Anlauf.

Prof. Bendel: Dabei wird es immer wichtiger: Nicht zuletzt die Fluchtzuwanderung infolge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine hat gezeigt, dass eine gemeinsame Haltung innerhalb der EU wesentlich ist. Mit der erstmals aktivierten EU-Richtlinie zum vorübergehenden Schutz haben sich die Mitgliedstaaten nicht nur solidarisch, sondern auch pragmatisch verhalten. Leider zeigt sich derzeit im Sinne eines stärkeren Flüchtlingsschutzes überhaupt kein Silberstreif mehr am Horizont, vielmehr weisen die absehbaren Einigungen unter den Mitgliedstaaten auf eine Missachtung dieser Grundlagen.

Die Aufgabe des SVR ist die unabhängige Politikberatung – welche Schwerpunkte haben Sie während Ihrer Mitgliedschaft und dann vor allem auch in der Zeit Ihres Vorsitzes bzw. stellvertretenden Vorsitzes gesetzt?

Prof. Bendel: Ein Thema, auf das der SVR in den vergangenen Jahren fokussiert hat, ist die Fachkräfteeinwanderung. Uns war klar, dass die Erwerbsmigration nicht nur vereinfacht, sondern auch für mehr Personengruppen geöffnet werden muss. Denn Deutschland braucht in allen Bereichen mehr Arbeitskräfte – bei den Hochqualifizierten, den Fachkräften mit Berufsausbildung wie auch bei Arbeitskräften mit wenigen oder keinen Qualifikationen.

Prof. Thym: 2018 haben wir dazu im Rahmen des Jahresgutachtens das „Nimm 2+ Modell“ vorgeschlagen. Diesem Modell zufolge würden Fachkräfte mit ausländischer Berufsausbildung in nicht-reglementierten Berufen, die einen Arbeitsvertrag vorweisen können, auch ohne Gleichwertigkeitsnachweis nach Deutschland kommen können. Sie müssten dafür mindestens ein Alternativkriterium erfüllen, etwa Sprachkenntnisse oder einen besonderen Bezug zu Deutschland vorweisen. Wesentliche Ideen dieses Modells finden sich jetzt in den Überlegungen der Bundesregierung zur Erfahrungssäule und der Chancenkarte wieder. Mindestens genauso wichtig wie die Erarbeitung von Empfehlungen ist aber eine vernünftige Aufbereitung des wissenschaftlichen Status quo sowie die zuverlässige Identifikation von Stellschrauben. Hier hat der SVR meines Erachtens extrem Wichtiges geleistet.

Prof. Bendel: Der SVR liefert mit seiner Arbeit wissenschaftliche Fakten und Daten, und das passiert oft in Zusammenhang mit polarisierten Diskussionen. Zum Beispiel haben wir wiederholt Position zu einem moderneren Staatsbürgerschaftsrecht bezogen und 2020 haben wir in unserem Jahresgutachten zu Migration aus Afrika nach Europa dargelegt, warum regionale und internationale Zusammenarbeit im Bereich Migrationssteuerung so wichtig ist …

Prof. Thym: … und warum dabei mehrgleisig gedacht werden muss: Im Gutachten von 2019 identifizierten wir nationale und europäische Stellschrauben. Im darauffolgenden Gutachten zeigten wir, wie darüber hinaus die Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern funktionieren kann. Ein Teil einer umfassenden Lösung sind hierbei auch legale Zugangswege. Diese verschiedenen Facetten müssen zusammengedacht werden.

Und wie wurde die Beratung des SVR rezipiert – wurden Vorschläge aufgegriffen?

Wissenschaft soll nicht nur ihre Erkenntnisse in die Öffentlichkeit hineintragen. Sie sollte auch ein Gespür dafür haben, welche Fragen sich in der Praxis stellen und wie diese Fragen in der Wissenschaft aufgegriffen und untersucht werden können.

– Prof. Dr. Petra Bendel

Prof. Bendel: Wir konnten unsere Handschrift schon ganz konkret herauslesen etwa im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung, dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz oder den Integrationsgesetzen fast aller Bundesländer, die ein solches entwickelt haben. Auch unsere Publikationen werden gut aufgenommen – vor allem das Jahresgutachten. Hier greifen wir neue Debatten auf und entwickeln Handlungsoptionen. Zum Beispiel zur Regulierung klimawandelbedingter Migration – das ist Thema des SVR-Jahresgutachtens 2023 –, zur Migration ins Gesundheitswesen im SVR-Jahresgutachten 2022 oder zum Umgang mit dem „Normalfall Diversität“ – damit haben wir uns im Jahresgutachten 2021 auseinandergesetzt. Außerdem steht der Sachverständigenrat in regem Austausch mit gesellschaftspolitischen Akteuren wie Migrantenorganisationen oder Verbänden. Wissenschaft soll ja nicht nur ihre Erkenntnisse in die Öffentlichkeit hineintragen. Sie sollte auch ein Gespür dafür haben, welche Fragen sich in der Praxis stellen und wie diese Fragen in der Wissenschaft aufgegriffen und untersucht werden können.

Prof. Thym: Die inhaltliche Bandbreite des SVR ist groß: Neben dem „Flaggschiff“ Jahresgutachten sind etwa die Papiere des wissenschaftlichen Stabs extrem relevant für eine sachliche und allgemeinverständliche Aufbereitung komplexer Zusammenhänge. Denn im Dickicht von Fakten, Rechtsregeln und Wirkungszusammenhängen verlieren wir in Deutschland inzwischen schnell den Überblick. Hier ist weiterhin Aufklärungsarbeit zu leisten, auch wenn das nicht immer sexy ist.

Prof. Bendel: Da muss man Ausdauer haben. Wissenschaftsbasierte Politikberatung ist ein starkes, aber langsames Bohren dicker Bretter.

Haben sich die Diskurse in den vergangenen Jahren verändert?

Prof. Thym: In der Tat haben sie das: Inzwischen ist in der Breite der Gesellschaft und der Politik angekommen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Die Zahlen sprachen ja schon lange dafür – etwa ein Viertel der Menschen, die in Deutschland leben, haben eine Zuwanderungsgeschichte. Das wurde jetzt im Koalitionsvertrag von 2021 entsprechend gewürdigt. Trotzdem bleibt ein Spannungsverhältnis: Auch wenn weitgehend geklärt ist, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, bleibt die Frage, wie wir als Gesellschaft damit umgehen, teilweise noch offen. Sachverständige Beratung bleibt also wichtig.

Prof. Bendel: Wir haben festgestellt, dass es einen wachsenden Beratungsbedarf gibt – trotz oder vielleicht gerade wegen der Informationsflut, der wir inzwischen ausgesetzt sind. Hier gilt es zu differenzieren, einzuordnen, zu bewerten und dann Sachargumente und neue Impulse zu liefern. Beratungsbedarf gibt es auf allen politischen Ebenen – im Bund, in den Ländern und den Kommunen.

Vor diesem Hintergrund: Was sind die Ziele wissenschaftsbasierter Politikberatung?

Prof. Bendel: Gerade in einer kontroversen, oft auch ideologisch aufgeladenen Debatte ist es Rolle der Wissenschaft, solide, methodisch einwandfrei und mit überprüfbaren Informationen über Entwicklungen, Problemstellungen und Lösungsansätze zu berichten. Außerdem liegt der Kern der Wissenschaft im Ringen um die beste Methode, im Zweifeln und auch im Hinterfragen von früheren Ergebnissen.

Auf dieser Grundlage kann wissenschaftliche Politikberatung gerade in einem professionellen, unabhängigen Gremium wichtige Orientierungspunkte liefern. Zugleich haben wir aber auch immer deutlich gemacht, dass es nicht nur auf die politischen und rechtlichen Reformen ankommt, sondern auch auf die Art, wie diese Reformen realisiert werden. Ich nenne es die „Körpersprache“ des Staates. Es geht um die Frage, wie materielles Recht von den Behörden in der Praxis umgesetzt wird. In vielen Bereichen – nehmen wir das Beispiel Erwerbsmigration – gehört Deutschland schon zu den liberalsten Ländern der Welt. Bei der Rechtsumsetzung hapert es aber. Wir haben zu wenig Personal und zu wenig Digitalisierung in der Verwaltung und gleichzeitig zu komplizierte Verfahren.

Prof. Thym: Hier kann sich der SVR auch weiterhin profilieren. Inhaltlich werden viele Prozesse inzwischen leider vor allem normativ betrachtet – das gilt auch für die Migrationsforschung. Theoretische und auch bewertende Vorannahmen sind dabei zwar wichtig, sie sollten aber nicht zu sehr ins Zentrum rücken. Denn dann besteht die Gefahr, dass sich die Forschungslandschaft von der politischen Praxis entfernt bzw. als einseitig wahrgenommen wird.

Prof. Bendel: Eine weitere Herausforderung ist, die Logik der schneller agierenden Politik aufzunehmen, ohne dass dabei wissenschaftliche Standards unter Druck geraten. Dazu müssen komplexe Sachverhalte konkret dargestellt werden, ohne dass sie in die Trivialität abrutschen. Manchmal heißt das, dass man zu einer sich aktuell politisch stellenden Frage wissenschaftsbasiert einfach auf die Schnelle nichts sagen kann. Und schließlich gilt es, den Austausch aufrechtzuerhalten – etwa mit Behörden und Verbänden.

Sie scheiden Ende 2022 turnusgemäß aus dem SVR aus – was nehmen Sie mit von Ihrem Engagement im SVR?

Prof. Thym: Ich habe selbst viel gelernt. Besonders im Dialog mit den anderen Ratsmitgliedern, der Geschäftsführung sowie den Mitarbeitenden in der Geschäftsstelle habe ich neue Perspektiven und Themen gesehen, mit denen ich mich davor nicht schwerpunktmäßig beschäftigt hatte. Es sind ja viele unterschiedliche Fachbereiche im SVR vertreten – gerade dieser interdisziplinäre Ansatz ist eine enorme Bereicherung für die praxisorientierte Wissenschaft. Auch die Erfahrung, dass unsere Arbeit auch in der Politik und Öffentlichkeit breit rezipiert wird, ist sehr positiv und ermutigend gewesen.

Gerade der interdisziplinäre Ansatz des SVR ist eine enorme Bereicherung für die praxisorientierte Wissenschaft.

– Prof. Dr. Daniel Thym

Prof. Bendel: Die konstruktive Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Wissensbereichen und dem wissenschaftlichen Stab sind sehr fruchtbare Erfahrungen. Wir haben unsere wissenschaftliche Expertise beim SVR praxisorientiert zusammengebracht und immer um die beste Lösung gerungen. Ich bin sehr dankbar, dass ich Teil dieses Prozesses war. Weil wir uns immer neuen Themen gestellt haben, nehme ich auch inhaltlich sehr viel mit. Einigen Fragestellungen gehe ich jetzt im Rahmen meiner Forschungsarbeit weiter nach – zum Beispiel zur Integration ausländischer Arbeitskräfte, einer bedarfsgerechten Verteilung von Geflüchteten auf Länder und Kommunen oder den Möglichkeiten, Klimamobilität besser zu regeln. Denn Wissenschaft soll aus meiner Sicht nicht nur erklären, sondern auch etwas bewegen.

Die Fragen stellte Meike Giordono-Scholz, Kommunikationsmanagerin in der SVR-Geschäftsstelle.


Prof. Dr. Petra Bendel wurde 2016 zum Mitglied des Sachverständigenrats berufen und hatte den Vorsitz seit 2019 bis Ende 2022 inne. Sie ist Professorin für Politische Wissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und leitet dort am Institut für Politische Wissenschaft den Forschungsbereich Migration, Flucht und Integration (MFI).

Prof. Dr. Daniel Thym wurde ebenfalls 2016 Mitglied des Sachverständigenrats und war seit 2019 bis Ende 2022 dessen Stellvertretender Vorsitzender. Er ist Professor für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz und Direktor des dortigen Forschungszentrums Ausländer- & Asylrecht (FZAA).