Integrationsklima in Deutschland: Weiter verbessert, mit leichten Eintrübungen

Ein Beitrag von Prof. Dr. Marc Helbling und Prof. Panu Poutvaara, Ph.D.

Das Jahr 2022 hat nach gut zwei Jahren pandemiebedingter Einschränkungen und aufgrund großer Fluchtbewegungen erneut viele Herausforderungen mit sich gebracht. Negative Auswirkungen auf das Zusammenleben in Vielfalt zeigen sich aber bislang nicht. Der vom Sachverständigenrat im Rahmen einer repräsentativen Befragung ermittelte Integrationsklima-Index zeigt sich krisenresistent und erreicht seinen höchsten Wert seit Erhebungsbeginn.

2022 war in vielerlei Hinsicht ein besonderes Jahr: Mit dem Angriff russischer Truppen auf das Staatsgebiet der Ukraine ging die größte Fluchtbewegung in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs einher; in der Folge kam es zu einer Energieversorgungskrise und insgesamt steigenden Preisen, die verkraftet werden mussten – und das zu einer Zeit, in der die Folgen der Corona-Pandemie noch nicht bewältigt sind. Dies stellte Deutschland im Jahr 2022 vor einige Belastungsproben und wir waren gespannt, ob sich diese auch auf die Einstellungen zum Zusammenleben in Vielfalt auswirken.

Positiver Trend trotz großer Herausforderungen

Trotz dieser Herausforderungen wird das gesellschaftliche Zusammenleben im Einwanderungsland Deutschland aber positiv bewertet. Wie die Befragungen zum SVR-Integrationsbarometer 2022 zeigen, ist das Integrationsklima sogar besser denn je. Im Vergleich zur vorherigen Erhebung im Jahr 2019/20 stieg der Integrationsklima-Index (IKI) um 2,2 auf 68,5 Punkte an. Zur Einordnung: Der IKI reicht von 0 bis 100 Punkten, alle Ergebnisse über 50 sind damit im positiven Bereich. Je deutlicher sie über 50 kommen, desto besser sind sie. Das Ergebnis kommt zugleich nicht überraschend: Beim SVR-Integrationsbarometer geht es nicht um tagesaktuelle Ereignisse, sondern um die Frage, welche Erfahrungen Menschen in ihrem Alltag mit dem Zusammenleben in Vielfalt machen. Themen und aktuelle Ereignisse, die medial kontrovers diskutiert werden, fallen hier damit weniger ins Gewicht. Der Befragungszeitraum ist im Vergleich zu anderen Umfragen zudem relativ lang und der Inhalt der Fragen zielt auf die jeweils individuell wahrgenommene Situation ab. Es geht um Alltagserfahrungen und persönliche Beziehungen zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund; es geht um den Freund und den Nachbarn, die Kollegin und Mitschülerin. Der Integrationsklima-Index ist dadurch ‚geerdet‘.

„Persönliche Begegnungen sind wesentlich für das Zusammenleben in Vielfalt: Über 90 Prozent der Befragten bewerten ihren Kontakt zu Menschen unterschiedlicher Herkunft als außerordentlich positiv.“

– Prof. Panu Poutvaara, Ph.D.

Persönlicher Kontakt fördert das

Zusammenleben Unterschiede in der Wahrnehmung des Integrationsklimas ergeben sich vor allem aufgrund sozialer Merkmale der Befragten wie Alter, Geschlecht und Bildungsniveau. Generell gilt: Junge Menschen, Frauen und Personen mit einem hohen Bildungsstand schätzen das Integrationsklima positiver ein als ältere Personen, Männer und Menschen mit einem niedrigen Bildungsstand. Die Ergebnisse zeigen aber auch, wie wichtig persönliche Begegnungen für das Zusammenleben in Vielfalt sind. Bundesweit haben über 90 Prozent der Befragten ihren Kontakt zu Menschen mit unterschiedlicher Herkunft als außerordentlich positiv bewertet. Steigende Kontaktmöglichkeiten führen in der Regel dazu, dass Vorurteile abgebaut werden – darauf deuten auch die Daten von 2022 beim Vergleich zwischen Ost- und Westdeutschland hin. Junge Menschen in den ostdeutschen Bundesländern bewerten etwa das Integrationsklima nun positiver als noch vor einigen Jahren. Grund dafür könnte der gestiegene Bevölkerungsanteil von Personen mit Migrationshintergrund in Ostdeutschland sein.

Diskriminierungswahrnehmung als Integrationshemmnis

Wie die Daten zeigen, gibt es jedoch auch Schattenseiten. Während der persönliche Kontakt in der diversen Bevölkerung als Bereicherung empfunden wird, verschlechtern Diskriminierungswahrnehmungen die Einschätzung des Integrationsklimas. Hiervon sind Türkeistämmige besonders betroffen. Jede bzw. jeder Fünfte berichtet über sehr starke oder eher starke Benachteiligungserfahrungen. Grund dafür ist vermutlich auch das „Integrationsparadoxon“: Je länger eine zugewanderte Person in Deutschland lebt, desto wahrscheinlicher ist er oder sie in der Lage, Diskriminierung als solche zu identifizieren. Neuere Studien deuten darauf hin, dass dies in Deutschland vor allem für türkeistämmige Personen festzustellen ist. Neben Türkeistämmigen sehen auch andere Befragte unabhängig von ihrer Herkunft eine Ungleichbehandlung von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund: Im Bildungswesen spricht ein knappes Drittel der Befragten von Gleichstellungshindernissen für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte; auf dem Arbeitsmarkt ist es mehr als die Hälfte.

Prinzipien des demokratischen Systems sind allen wichtig

Im SVR-Integrationsbarometer 2022 wurden auch Einstellungen zur Demokratie erhoben. Dabei zeigte sich ein breiter gesellschaftlicher Konsens: Unabhängig von ihrer Herkunft hielten neun von zehn Befragten die grundlegenden Prinzipien des demokratischen Systems für wichtig. Dieser Befund deckt sich grundsätzlich mit Ergebnissen aus vorangegangenen Erhebungen. Neu ist, dass nun differenziert nach verschiedenen Dimensionen liberaler Demokratien gefragt wurde. Es ging um das Rechtsstaatsprinzip und den Gleichbehandlungsgrundsatz, die Gewaltenteilung oder den Minderheitenschutz. Auch hier herrscht in fast allen Punkten ein hoher Grad an Übereinstimmung. Dieser Konsens gilt ebenso für Wahlen. Die ganz große Mehrheit der Befragten mit und ohne Migrationshintergrund (jeweils mehr als 95 %) bewertet freie und faire Wahlen als eher bzw. sehr wichtig.

„Soziale Schieflage“ bei Wahlbeteiligung

Da sich die Legitimität des demokratischen Systems nicht nur in seiner Wertschätzung, sondern vor allem auch in seiner praktischen Unterstützung zeigt, wurde im Integrationsbarometer 2022 auch nach der Beteiligung an der 20. Bundestagswahl gefragt. Hier zeigt sich ein bekanntes Bild: Deutsche Staatsangehörige mit Migrationshintergrund nehmen ihr Wahlrecht seltener wahr; Selbstzugewanderte sind auch sonst weniger politisch engagiert. In der Wahlforschung werden dafür unterschiedliche Faktoren verantwortlich gemacht: politisches Interesse, Parteibindung, sozioökonomische Unterschiede oder migrationsspezifische Einflussgrößen wie z. B. Sprachkenntnisse und die Aufenthaltsdauer in Deutschland. Bei den Befragungen zum SVR-Integrationsbarometer konnte vor allem ein Zusammenhang zwischen Wahlbeteiligung und Bildungsniveau festgestellt werden – und zwar über alle Herkunftsgruppen hinweg.

„Trotz positiver Grundstimmung gibt es auch Schattenseiten: Während der Kontakt zwischen verschiedenen Herkunftsgruppen als Bereicherung empfunden wird, trüben Diskriminierungswahrnehmungen die Einschätzung des Integrationsklimas ein.“

– Prof. Dr. Marc Helbling

Positiver Zusammenhang zwischen Engagement und Partizipation

Neben der Wahlbeteiligung gibt es noch weitere Formen der politischen Partizipation: Befragte können ihre Position etwa in politischen Diskussionen vertreten, an Demonstrationen teilnehmen oder aber in einer Bürgerinitiative oder Partei mitarbeiten. Dabei ist deutlich geworden: Ob sich jemand politisch engagiert, hängt nicht vom Migrationshintergrund ab. Hier macht die Staatsbürgerschaft den Unterschied, denn Befragte, die die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, beteiligten sich unabhängig von ihrer Herkunft gleich viel. Die Legitimität des demokratischen Systems misst sich auch an der politischen Teilhabe der Bevölkerung. Wenn manche Gruppen von ihren Rechten weniger Gebrauch machen, entsteht eine Partizipationslücke. Politische Bildung und eine gezielte Ansprache potenzieller Wählerinnen und Wähler durch die Politik können dem entgegenwirken. Einen wichtigen Beitrag leisten kann auch die Einbindung von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in politische Entscheidungsprozesse über Parteien, Verbände oder andere organisierte Interessenvertretungen. Das SVR-Integrationsbarometer 2022 wird gefördert durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) sowie durch die Länder aufgrund eines Beschlusses der Konferenz der für Integration zuständigen Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren der Länder (IntMK).


Prof. Panu Poutvaara, Ph.D. ist seit 2019 Mitglied im Sachverständigenrat. Er ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Direktor des ifo Zentrums für Internationalen Institutionenvergleich und Migrationsforschung am ifo Institut. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u. a. die Auswirkungen von Migrationsmöglichkeiten auf Humankapitalinvestitionen, Familienmigration und Populismus sowie Wohlfahrtseffekte von Zuwanderung.

Prof. Dr. Marc Helbling ist seit 2021 Mitglied des Sachverständigenrats. Er ist Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Migration und Integration an der Universität Mannheim. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Migrations- und Staatsbürgerschaftspolitik, Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie, populistische und extremistische Einstellungen, Ursachen von Migration sowie Integration von Migrantinnen und Migranten. Er ist Associate Editor der International Migration Review und des Journal of Ethnic and Migration Studies.


LITERATUR
Integrationsklima 2022: Leicht verbessert mit einzelnen Eintrübungen

Das SVR-Integrationsbarometer 2022 ist die vierte bundesweite repräsentative Befragung von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund über Einschätzungen und Einstellungen zu integrations- und migrationsspezifischen Themen. Für die Studie wurden zwischen Ende November 2021 und Anfang Juli 2022 15.005 Personen bundesweit interviewt. Davon waren 8.005 Menschen ohne Migrationshintergrund, 1.204 (Spät‑)Aussiedlerinnen und (Spät‑)Aussiedler, 980 Türkeistämmige, 1.987 Zuwanderinnen und Zuwanderer aus EU-Ländern und 2.829 Personen der Herkunftsgruppe „übrige Welt“. Um Aussagen auf Bundeslandebene treffen zu können, wurden in jedem Bundesland mindestens 500 Menschen ohne und weitere 500 Menschen mit Migrationshintergrund befragt. In den ostdeutschen Flächenländern wurden aufgrund des geringeren Anteils an der Gesamtbevölkerung neben 500 Befragten ohne Migrationshintergrund lediglich 300 Personen mit Migrationshintergrund interviewt.

→ SVR 2022: Integrationsklima 2022: Leicht verbessert mit einzelnen Eintrübungen. SVR-Integrationsbarometer 2022, Berlin.