Interview mit Prof. Vorländer, Vorsitzender des SVR, und Prof. Dr. Winfried Kluth, Mitglied des SVR
2023 wurde in Deutschland wie in der Europäischen Union viel über das Thema Migration diskutiert, oft geschah dies auch in einem recht scharfen Ton. Wenn Sie zurückblicken: Wie beschreiben Sie die Entwicklung im vergangenen Jahr?
Prof. Vorländer: Zunächst einmal muss man festhalten, dass seit 2022 wieder deutlich mehr Schutzsuchende nach Deutschland und Europa gekommen sind – aus der Ukraine, aber auch aus Drittstaaten. Dadurch ist der politische Handlungsdruck gestiegen. Zugleich gehört Migration zu den Themen, bei denen es sehr polarisierte politische Agenden in Europa und zum Teil auch in Deutschland gibt. Dabei muss man differenzieren: Einerseits ist Deutschland wie viele andere Länder auf Zuwanderinnen und Zuwanderer für den Arbeitsmarkt angewiesen – das hat nicht zuletzt das SVR-Jahresgutachten 2022 exemplarisch für den Gesundheitsbereich gezeigt. Die Regelungen zur Erwerbsmigration wurden deshalb weiter liberalisiert und entscheidende Hürden abgebaut. So muss etwa die Gleichwertigkeit ausländischer Abschlüsse nicht mehr nachgewiesen werden. Umfragen zeigen, dass das auch in der Bevölkerung große Akzeptanz findet. Andererseits hat aber auch die Fluchtzuwanderung wieder zugenommen. Viele Kommunen fühlen sich überlastet, in der öffentlichen Debatte sind deshalb Forderungen nach einer stärkeren Zuwanderungsbegrenzung laut geworden.
Prof. Kluth: Wir müssen dabei die Aufnahme in Europa in einen Kontext rücken, sonst verschwimmen die Maßstäbe: Weltweit waren im Jahr 2023 etwa 110 Millionen Menschen auf der Flucht. Nur ein kleiner Teil dieser Flüchtlinge lebt in Europa; die weitaus meisten sind Binnenvertriebene, weitere fliehen zunächst in nahe gelegene Länder – sie leben in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Gleichzeitig steigen in der Tat auch in Europa die Asylantragszahlen wieder an, im Jahr 2023 waren es rund 1,1 Millionen Asylerstanträge in der EU. Hinzu kommen die mehr als 4 Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine, die die EU seit dem russischen Angriff aufgenommen hat. Diese Menschen zu versorgen, sie unterzubringen und dann eine Integration zu ermöglichen ist tatsächlich eine große Herausforderung – aber sie ist zu bewältigen, wenn die EU-Mitgliedstaaten solidarisch agieren. Daher ist die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, auf die man sich Ende 2023 endlich einigen konnte, auch von zentraler Bedeutung.
Wie beurteilt der SVR insgesamt die geplante GEAS-Reform?
Prof. Vorländer: Die Reform war seit Langem überfällig. Die Zunahme von Menschenrechtsverletzungen etwa durch illegale Pushbacks an der EU-Außengrenze, aber auch die fehlende Lasten- und Verantwortungsteilung bei einer hohen Fluchtzuwanderung haben das mehr als deutlich gezeigt. Mit der politischen Einigung hat sich die EU als handlungsfähig erwiesen.
Was erwarten Sie nun von der Reform?
Prof. Vorländer: Um zunächst das Positive zu nennen: mehr Solidarität innerhalb der EU. Das derzeitige System hatte einen entscheidenden Konstruktionsfehler, der nun durch den geplanten Solidaritätsmechanismus behoben werden soll.
Prof. Kluth: Damit soll die Verteilung der Asylsuchenden zwischen den Mitgliedstaaten besser gesteuert und dadurch die Lastenverteilung gerechter werden. Der Mechanismus ist verpflichtend, die Mitgliedstaaten können die Art ihres Solidaritätsbeitrags aber selbst wählen – sie können etwa Flüchtlinge aufnehmen, Geldzahlungen leisten oder andere Mitgliedstaaten durch die Entsendung von Personal unterstützen.
Prof. Vorländer: Für ein Gelingen der jetzt beschlossenen Reform müssen die EU-Mitgliedstaaten aber konstruktiv zusammenarbeiten. Die neuen Regelungen enthalten erstmals eine jährliche Prognose der zu erwartenden Anträge und der erforderlichen Kapazitäten sowie den Einstieg in einen Lastenteilungsmechanismus. Wichtig ist, dass sich alle Mitgliedstaaten angemessen daran beteiligen. Angesichts einer voraussichtlich anhaltend hohen Fluchtzuwanderung wird das nicht immer einfach sein.
„Das deutsche Migrationsrecht ist häufig zu kompliziert. Es braucht einfachere Regelungen, mehr Kooperation zwischen den Behörden und dazu eine bessere Ausstattung der jeweils verantwortlichen Dienststellen.“
– Prof. Dr. Winfried Kluth
Und wo sehen Sie Herausforderungen?
Prof. Vorländer: Bei den beschleunigten Grenzverfahren für Schutzsuchende mit geringer Bleibeperspektive, um ein Beispiel zu nennen – hier kommt es vor allem auf die praktische Umsetzung an. Dabei müssen die menschen- und flüchtlingsrechtlichen Standards beachtet werden. Sie sind die Richtschnur für die Bewertung der Reform.
Prof. Kluth: Asylsuchende, die sich im Grenzverfahren befinden, müssen also zu jedem Zeitpunkt Zugang zu einer unabhängigen Verfahrensberatung haben. Bei ihrer Unterbringung in den geplanten geschlossenen Einrichtungen an den EU-Außengrenzen sind wirksame Schutzkonzepte zwingend. Schließlich müssen auch bei der Abschiebung von Personen ohne Asylberechtigung in ihre Herkunftsländer oder sog. sichere Drittstaaten die Grundsätze des internationalen Flüchtlingsschutzes eingehalten werden.
Im vergangenen Jahr wurde auch die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten wie etwa Ruanda oder Albanien diskutiert. Kann so ein Verfahren funktionieren?
Prof. Vorländer: Die Diskussion um eine Externalisierung von Asylverfahren ist nicht neu. Der SVR hat sich bereits im Jahr 2017 mit dem Thema beschäftigt. Damals waren wir den Vorschlägen gegenüber sehr kritisch eingestellt und das sind wir heute immer noch. Die vorliegenden Konzepte für solche Verfahren werfen unserer Ansicht nach erhebliche politische, juristische und operative Fragen auf.
Was sind die größten Kritikpunkte?
Prof. Kluth: Eine Auslagerung asylrechtlicher Verfahren und der anschließenden Aufnahme oder Rückführung ist an sehr viele Voraussetzungen gebunden. So müssen das in der Genfer Flüchtlingskonvention verankerte Prinzip der Nichtzurückweisung sowie das Verbot der kollektiven Ausweisung beachtet werden. Schutzsuchende haben Anspruch auf einen Zugang zu effektivem Rechtsschutz – dieser muss stets gewährleistet werden. Die völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands, aber auch die Europäische Menschenrechtskonvention setzen hier Grenzen.
Prof. Vorländer: Dazu gibt es auch viele praktische Fragen, die geklärt werden müssten: In welchen Ländern könnten Aufnahmezentren eingerichtet werden, welche rechtlichen Grundlagen würden in diesen Zentren gelten und wer wäre dort für die Bearbeitung der Asylanträge verantwortlich? Auch müsste die Asylpolitik in der EU vor Beginn solcher Verfahren grundlegend harmonisiert werden. Personen mit festgestelltem Schutzbedarf müssten über einen gerechten Verteilschlüssel in der EU aufgenommen werden – das geht über den kürzlich im Rahmen der GEAS-Reform beschlossenen Solidaritätsmechanismus weit hinaus. Schließlich müssen wir auch bedenken, dass sich die politische Lage in einem Drittstaat ändern kann. Es besteht die Gefahr, dass Deutschland oder die EU in eine politische Abhängigkeit geraten und Asylsuchende in diesem Zusammenhang instrumentalisiert werden.
Blicken wir auf Deutschland: Viele Kommunen klagen seit Längerem schon über eine Überbelastung. Was ist davon zu halten?
Prof. Kluth: Auf manche Kommunen trifft das sicherlich zu; eine Umfrage aus dem Herbst 2023 zeigt, dass 40 Prozent der Kommunen eine „Überlastung“ angaben und sich „im Notfallmodus“ sahen. Wenn wir Bilanz über die letzten Jahre ziehen, wird aber deutlich, dass das Aufnahme- und Integrationsmanagement durchaus gesteuert werden kann – und zwar durch vorausschauendes Handeln von Politik und Verwaltung, wie es das reformierte GEAS jetzt erstmals für die EU und alle Mitgliedstaaten vorschreibt. Kommunen, die früher bereits Strukturen zur Aufnahme und Unterbringung von Schutzsuchenden aufgebaut und aufrechterhalten haben, konnten darauf zurückgreifen, sie waren besser aufgestellt und konnten dadurch schneller und pragmatischer reagieren als Kommunen, in denen es keine solchen Kapazitäten gab.
Prof. Vorländer: Zum anderen sehen wir auch einen Zusammenhang zwischen Überlastung und Defiziten in der Grundausstattung. Die Aufnahme von Schutzsuchenden ist vor allem dort problematisch, wo die örtliche Infrastruktur Mängel aufweist – z. B. zu wenig Wohnraum. Das führt dazu, dass Flüchtlingsunterkünfte überfüllt sind und die Konkurrenz um bezahlbare Wohnungen zunimmt. Hinzu kommen noch Probleme bei der Umsetzung von migrations- und integrationspolitischen Regelungen:
Die Verwaltungen sind langsam und sehr bürokratisch. Woran liegt das?
Prof. Kluth: Die Regelungen sind häufig zu kompliziert. Das gilt auch für das deutsche Migrationsrecht. Dazu kommen mangelnde Kooperation zwischen den zuständigen Behörden, eine fehlende oder zu langsame Digitalisierung sowie eine unzureichende personelle Ausstattung und häufige Fluktuation.
Prof. Vorländer: Es zeigen sich grundsätzliche Infrastrukturprobleme, die wir auch in anderen Bereichen der Verwaltung sehen. Hier braucht es mehr Investitionen sowie einfachere Regeln und Strukturen.
„Polarisierung erhöht vielleicht den Handlungsdruck, verhindert aber nachhaltige politische Lösungen.“
– Prof. Dr. Hans Vorländer
Welche Rolle spielt die Zivilgesellschaft bei der Aufnahme und Integration von Schutzsuchenden?
Prof. Vorländer: Eine sehr wichtige: Schon in den Jahren 2015 und 2016 gab es ein großes ehrenamtliches Engagement. Das hat sich jetzt nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs wiederholt. Ohne die vielen freiwilligen Helferinnen und Helfer hätte die Versorgung der Schutzsuchenden in den ersten Wochen nicht so funktioniert. Auch für die Integration der Neuzugewanderten war und bleibt das Engagement der Gesellschaft sehr wichtig. Es wurden viele politische Maßnahmen diskutiert und teilweise auch umgesetzt, mit deren Hilfe die Fluchtzuwanderung auf nationaler Ebene begrenzt werden soll.
Welche dieser Maßnahmen sind geeignet, welche eher nicht?
Prof. Vorländer: Man sollte sich nicht zu viel von einzelnen Maßnahmen versprechen – und das auch gegenüber der Bevölkerung nicht suggerieren. Fluchtmigration lässt sich nicht durch Einzelmaßnahmen steuern, etwa eine Bezahlkarte, um nur einen der viel diskutierten Vorschläge zu nennen. Aus der Forschung wissen wir, dass Sozialleistungen in der politischen Debatte als Pull-Faktor überschätzt werden. Menschen, die ihre Herkunftsländer verlassen, um anderswo Schutz zu suchen, haben andere Prioritäten: Sie suchen einen Ort, an dem sie sicher sind, Arbeit finden und idealerweise schon jemanden kennen. Wichtig bei der Entscheidung für ein Zielland sind ein stabiles Umfeld, eigene berufliche Chancen sowie persönliche Netzwerke, etwa Familienangehörige oder Freunde, die die Geflüchteten unterstützen können. Eine Bezahlkarte wird Migration nach Deutschland deshalb aller Voraussicht nach nicht grundsätzlich beeinflussen. Sie kann aber durchaus zu einer Verwaltungsvereinfachung beitragen.
Prof. Kluth: Vor diesem Hintergrund hat der SVR auch das Gesetz zur Beschleunigung von Asylverfahren begrüßt. Anfang 2023 ist es in Kraft getreten – inzwischen zeigt es erste Wirkung. Nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) betrug die Gesamtverfahrensdauer der Erst- und Folgeanträge für das gesamte Bundesgebiet zwischen Januar und Dezember 2023 6,8 Monate. Bei den Jahresverfahren, die alle Entscheidungen über Erst- und Folgeanträge mit Antragstellung in den vergangenen 12 Monaten umfassen, betrug die Dauer 4,2 Monate.
Vor dem Hintergrund steigender Asylantragszahlen wurden auch gesetzliche Anpassungen vorgenommen, um die Abschiebung zu erleichtern. Wie realistisch ist das?
Prof. Kluth: Es spricht vieles dafür, dass es sich bei den Änderungen, die sich innerhalb des europäischen Rechtsrahmens bewegen, um notwendige Maßnahmen handelt. Vermutlich wird aber auch das nicht ausreichen, um die Rückkehrpolitik effektiver zu gestalten, denn der Bund kann immer nur den Rahmen setzen. Der Großteil der Abschiebungen wird von den Ländern durchgeführt.
Prof. Vorländer: Außerdem ist auch eine Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern nötig. Daran mangelt es oft – das war schon immer eines der größten Hindernisse bei Rückführungen. Deshalb braucht es Rücknahme- und Migrationsabkommen, in denen die Interessen beider Seiten berücksichtigt werden. So könnte eine Rücknahmeverpflichtung etwa mit Erleichterungen für Arbeitsvisa einhergehen. Inzwischen wurden erste Abkommen dieser Art von der Bundesregierung geschlossen – das begrüßen wir sehr. Aber man sollte auch nicht den Eindruck erwecken, dass künftig in großem Stil abgeschoben oder zurückgeführt wird.
Warum?
Prof. Kluth: Die bereinigte Gesamtschutzquote in Deutschland ist recht hoch. Seit 2022 liegt sie bei mehr als 70 Prozent, d. h. die meisten Schutzsuchenden, die in den letzten Jahren in Deutschland einen Antrag auf Asyl gestellt haben, sind nach deutschem Recht schutzberechtigt.
Prof. Vorländer: Hier ist deshalb die politische Kommunikation wichtig, um keine unrealistischen Erwartungen hervorzurufen: Es geht bei diesen Abkommen vor allem darum, die Migrationswege besser zu trennen – Fluchtmigration auf der einen und Erwerbsoder Bildungsmigration auf der anderen Seite.
Was sind Ihrer Meinung nach nun die größten Herausforderungen?
Prof. Kluth: Eine große Herausforderung ist die Umsetzung der beschlossenen Gesetze und Verordnungen. Über Jahre hinweg wurde zu wenig in die Verwaltung investiert: Überregulierung, unzureichende Kooperation, fehlendes Personal und eine stockende Digitalisierung bei einer gleichzeitig komplexer gewordenen Rechtslage – das passt nicht zu den Aufgaben, die die Behörden zu bewältigen haben. Von der Politik und insbesondere den gesetzgebenden Organen erwarten wir deshalb mehr Mut zur Vereinfachung und mehr Tempo in Sachen Verwaltungsreform.
Prof. Vorländer: Eine besondere Herausforderung ist auch der verschärfte Ton in der Debatte, wenn es um das Thema Migration geht. Polarisierung erhöht vielleicht den Handlungsdruck, verhindert aber nachhaltige politische Lösungen. Denn so werden Erwartungen aufgebaut, die nicht erfüllt werden können. Anstatt den Eindruck zu erwecken, mit einzelnen Maßnahmen große Veränderungen bewirken zu können, sollte bei den Themen Migration und Integration wieder sachlich, wissensbasiert und lösungsorientiert diskutiert werden.
Die Fragen stellte Meike Giordono-Scholz, Kommunikationsmanagerin in der SVR-Geschäftsstelle.
Prof. Dr. Hans Vorländer ist seit 2018 Mitglied des Sachverständigenrats und seit 2023 dessen Vorsitzender. Er ist Direktor des 2017 gegründeten Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM) sowie des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung (ZVD) an der TU Dresden. Von 1993 bis 2020 hatte er den Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte inne. Er wirkt als Berater in verschiedenen Expertenkommissionen und ist Mitherausgeber der Zeitschrift für Politikwissenschaft. Zu seinen Arbeitsbereichen zählen Politische Theorie, Konstitutionalismus und Verfassung, Demokratie, Populismus sowie Migration und Integration.
Prof. Dr. Winfried Kluth ist seit 2023 Mitglied des Sachverständigenrats. Er ist Professor für Öffentliches Recht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU). Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Migrationsrecht, Öffentliches Wirtschaftsrecht, Kommunalrecht, Umweltrecht, Parlamentsrecht und Gesetzgebungslehre. Er leitet an der MLU Halle die Forschungsstelle Migrationsrecht – FoMig und ist Geschäftsführender Direktor der Interdisziplinären Wissenschaftlichen Einrichtung Genossenschafts- und Kooperationsforschung – IWE GK.