Selektive Solidarität? Wovon Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtlingen abhängt

Ein Beitrag von Dr. Nora Storz und Dr. Jan Schneider

Nora Storz und Jan Schneider sitzen an einem Tisch und haben Laptops vor sich.

Dr. Nora Storz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der SVR-Geschäftsstelle und Sozialwissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Migration, Integration und Intergruppenbeziehungen. Bei ERCOMER an der Universität Utrecht forschte sie zu Intergruppenbeziehungen in (Post-)Konfliktregionen.

Dr. Jan Schneider
ist Leiter des Bereichs Forschung und Stellvertreter der Geschäftsführung. Er studierte Sozialwesen, Politikwissenschaft und Soziologie und promovierte am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen über Beratungsprozesse in der deutschen Migrationspolitik.

Seit 2022 steigt die Zahl ankommender Schutzsuchender in Deutschland wieder an. Vor allem auf kommunaler Ebene erfordert das enorme Anstrengungen: In vielen Städten und Gemeinden ist Wohnraum knapp, es fehlt an Personal, finanzielle Ressourcen sind begrenzt. Ohne die Solidarität und Hilfsbereitschaft der Bevölkerung gegenüber Flüchtlingen wäre die Aufnahme teilweise nicht zu stemmen.In einem Einwanderungsland tragen freiwillige Helferinnen und Helfer auch zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei. Wovon aber hängt Hilfsbereitschaft ab und wie kann sie gefördert werden?

Der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine löste in Europa die größte Fluchtbewegung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus. Über vier Millionen ukrainische Flüchtlinge haben seitdem Schutz in der EU gefunden, mehr als ein Viertel von ihnen wurde in Deutschland aufgenommen. Auch die Zahl Schutzsuchender aus weiteren Drittstaaten ist seit 2022 gestiegen. Die Mehrheit dieser Menschen ist im Sinne des deutschen Rechts asylberechtigt. So belief sich die bereinigte Gesamtschutzquote 2019 auf knapp 60 Prozent, seit 2022 liegt sie bei etwa 70 Prozent. Mehr Schutzsuchende und Schutzberechtigte bedeuten eine große Herausforderung – vor allem für die kommunale Ebene. Neuankommende müssen aufgenommen und schließlich in die Gesellschaft integriert werden. Einen maßgeblichen Beitrag leisten hier auch freiwillige Helferinnen und Helfer, die Flüchtlinge bei der Ankunft unterstützen und versuchen, ihnen den Einstieg und das Einleben in Deutschland leichter zu machen.

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine

Bereits 2015 und 2016 zeigten viele Menschen in Deutschland eine große Hilfsbereitschaft. Damals kamen vor allem Flüchtlinge aus Syrien, aber auch aus Afghanistan und dem Irak. In den beiden Jahren wurde eine bislang unübertroffen hohe Zahl an Asylanträgen gestellt. Sowohl damals als auch jetzt nach dem russischen Angriff auf die Ukraine engagierten sich viele Menschen in Deutschland in der Flüchtlingshilfe: Sie sammelten Spenden, begleiteten Schutzsuchende zu Behörden oder halfen beim Deutschlernen. Kurz nach dem russischen Angriff wurde im Unterschied zu 2015/16 eine entscheidende Weiche für die Aufnahme gestellt: Für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aktivierte die Europäische Union die EU-Richtlinie zum vorübergehenden Schutz und schuf damit einen neuen Rechtsrahmen: Der Schutzstatus ukrainischer Flüchtlinge wurde kollektiv anerkannt; sie mussten und müssen kein individuelles Asylverfahren durchlaufen. In Deutschland erhalten sie, anders als Schutzsuchende aus anderen Drittstaaten, unmittelbar Zugang zu Arbeitsmarkt und Bürgergeld.

Flüchtlinge aus der Ukraine: Weiblich und gut ausgebildet

Doch nicht nur der institutionelle Rahmen weist Unterschiede auf, es zeigt sich noch eine weitere Abweichung: Flüchtlinge aus der Ukraine werden im Hinblick auf ihr Aussehen und ihre Erscheinungsmerkmale weniger als „fremd“ wahrgenommen. Bei der Suche nach einer Wohnung oder einem Arbeitsplatz etwa werden weiße Bewerbende weniger diskriminiert als phänotypisch differente Menschen. Zudem handelt es sich bei Flüchtlingen aus der Ukraine vor allem um Frauen und Kinder, denen eine größere kulturelle und religiöse Nähe zu Deutschland zuerkannt wird. Verschiedene Untersuchungen haben bereits gezeigt, dass in Deutschland Menschen christlichen Glaubens wohlwollender aufgenommen werden als Menschen muslimischen Glaubens. Doch wie weit differenzieren Engagierte und Engagementbereite tatsächlich? Oder anders gefragt: Welche Rolle spielen Herkunft und Eigenschaften von Flüchtlingen für das Maß an Solidarität, das ihnen entgegengebracht wird? Dieser Frage ist der wissenschaftliche Stab des SVR im Rahmen eines von der Stiftung Mercator geförderten Projekts nachgegangen. Das Ziel: eine empirische Untersuchung der These, dass Solidarität selektiv gezeigt wird.

Untersuchung zur Solidarität gegenüber Flüchtlingen

Im Frühjahr 2023 wurden dafür Daten von über 4.000 Befragten erhoben, die mittels eines Vignettendesigns Unterschiede in der Hilfsbereitschaft gegenüber verschiedenen Gruppen von Flüchtlingen offenlegen sollten. Eine Vignette ist eine kurze, fiktive Beschreibung eines Sachverhalts bzw. eines Profils. In diesem Fall ging es um die Beschreibung einer Person, die nach Deutschland geflohen ist. Die Befragten erhielten dafür unterschiedliche Flüchtlingsbeschreibungen, in denen Herkunftsland, Religionszugehörigkeit, Geschlecht, Ausbildungsabschluss sowie Bleibeabsicht in Bezug auf Deutschland jeweils variierten. Sie wurden dann nach ihren Einstellungen und ihrer Engagementbereitschaft gegenüber den jeweiligen Profilen gefragt.

Große Solidarität, aber durchaus abgestuft

Die Daten zeigen, dass die Bevölkerung in Deutschland Schutzsuchenden gegenüber solidarisch eingestellt ist. Insgesamt ist die Hilfsbereitschaft groß. So sind drei von vier der Befragten bereit, Geld für Flüchtlinge zu spenden, zwei Drittel würden Flüchtlinge zu Behörden begleiten und knapp ein Drittel kann sich vorstellen, Flüchtlinge bei sich zu Hause aufzunehmen. Aus den Daten wird aber auch ersichtlich, dass das Herkunftsland eines Flüchtlings die Solidarität der Aufnahmebevölkerung in gewissem Maß durchaus beeinflusst. Flüchtlinge aus der Ukraine können den Befragungsergebnissen zufolge etwas mehr Solidarität erwarten als
Flüchtlinge aus Syrien oder Nigeria. Darüber hinaus gibt es weitere Eigenschaften, die sich auf das Maß an Hilfsbereitschaft auswirken. So wird christlichen Frauen, die gut ausgebildet sind, eher geholfen als muslimischen, gering gebildeten Männern. Ein weiterer Punkt, der die Unterstützungsbereitschaft beeinflusst, ist die Bleibeabsicht: Flüchtlingen, die bald in ihr Herkunftsland zurückkehren wollen, wird mehr Hilfsbereitschaft entgegengebracht als Flüchtlingen, die mit einem langfristigen Aufenthalt in Deutschland rechnen.

Bevorzugung statistisch signifikant, aber nicht sehr groß

Die höhere Unterstützungsbereitschaft für ukrainische Geflüchtete im Vergleich zu Geflüchteten aus Syrien oder Nigeria ist statistisch gesehen zwar signifikant, aber eher gering: Mit 67 Prozent würden mehr Befragte Schutzsuchende aus der Ukraine bei Behördengängen begleiten – bei syrischen oder nigerianischen Geflüchteten sind es jedoch mit 63 Prozent im Gesamtkontext betrachtet ebenfalls sehr viele. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei anderen Formen der Hilfsbereitschaft – z. B. bei Sachspenden oder Wohnraum, der angeboten wird.

Eigenschaften der Befragten relevant für Engagementbereitschaft

Um ein vollständigeres Bild über die Bereitschaft zur Solidarität zu erhalten, wurden zusätzlich zu Eigenschaften, die einzelnen Flüchtlingsgruppen zugeschrieben werden, auch Eigenschaften der Befragten selbst erfasst. Dabei zeigt sich: Die politische Einstellung der Befragten, das Gefühl politischer Selbstwirksamkeit sowie das Vertrauen in Institutionen sind besonders relevant für ein Engagement bzw. die Bereitschaft zu einem Engagement. Befragte, die sich selbst politisch (eher) links einordnen, neigen stärker zu Solidarität gegenüber Flüchtlingen. Zudem spielt für diese Befragten die Herkunft der Flüchtlinge keine Rolle – sie zeigten sich gegenüber allen in der Umfrage genannten Herkunftsgruppen der Flüchtlinge hilfsbereit. Befragte, die sich politisch (eher) rechts einordnen, unterscheiden durchaus zwischen ukrainischen Flüchtlingen auf der einen und Flüchtlingen aus Syrien oder Nigeria auf der anderen Seite. Auch weisen Befragte, die das Gefühl haben, dass die Politik ihre Belange berücksichtigt, sowie diejenigen, die großes Vertrauen in die Institutionen der Politik oder Justiz haben, eine höhere Solidarität auf als diejenigen, die über ein eher gering ausgeprägtes Gefühl der politischen Selbstwirksamkeit oder nur ein schwaches Institutionenvertrauen verfügen.

Bevölkerung will von Entscheidungstragenden ernst genommen werden

Die Ergebnisse aus der Vignettenstudie zeigen, dass die Hilfsbereitschaft der ansässigen Bevölkerung gegenüber Schutzsuchenden grundsätzlich groß ist. Sie machen aber auch deutlich, dass die politisch Verantwortlichen und vor allem die kommunale Ebene vor Ort eine wichtige Rolle spielen: Wo auf den Bedarf der schon ansässigen Bürgerinnen und Bürger eingegangen wird, ist ein positiver Effekt auf die Flüchtlingssolidarität zu erwarten. Motive und Motivation in der Flüchtlingshilfe Was also motiviert Menschen dazu, sich für Flüchtlinge zu engagieren? Zu dieser Frage hat der wissenschaftliche Stab des SVR innerhalb des Projekts weitere Untersuchungen durchgeführt. Im Rahmen eines Workshops wurden Befunde mit Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis diskutiert. Hier zeichneten sich weitere Empfehlungen ab: Um Engagement in der Flüchtlingshilfe zu fördern, sollte die Engagementförderung stärker mit Demokratieförderung zusammengedacht und ausgebaut werden. Der Befund, dass politische Selbstwirksamkeit mit höherer Bereitschaft zum Engagement in Zusammenhang steht, unterstützt diesen Vorschlag. Auch fehlt es manchen Engagementbereiten an Informationen. Das Projekt „Solidarität in der Aufnahmegesellschaft: Wahrnehmung Geflüchteter und Determinanten für Engagement und Hilfsbereitschaft“ wird von der Stiftung Mercator finanziert. Auf Basis eines Online-Surveys der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland werden dabei Befunde zu Einstellungen und Engagement der Bevölkerung gewonnen. Im Jahr 2023 erschien ein Policy Brief, im Jahr 2024 folgt eine Studie mit weiteren Ergebnissen der Befragung.