Prof. Dr. Birgit Leyendecker ist seit Juli 2019 Mitglied des Sachverständigenrats und seit 2023 dessen Stellvertretende Vorsitzende. Sie ist Seniorprofessorin an der Fakultät für Psychologie der Ruhr-Universität Bochum im Bereich Familienforschung/Child and Family Research. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Integration von (neu) zugewanderten Kindern sowie von Kindern und Familien mit Fluchterfahrungen in das Bildungssystem, Familie und Diversity/geschlechtliche Vielfalt, positive Entwicklung von zugewanderten Kindern und ihren Familien, Mehrsprachigkeit. Sie ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Der Klimawandel ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Wie reagieren Menschen, die von den Folgen des Klimawandels betroffen sind?
Prof. Leyendecker: Es gibt ganz unterschiedliche Arten, wie mit den Folgen des Klimawandels umgegangen wird. Ein Extremwetterereignis wie ein Sturm oder eine Überschwemmung etwa zwingt Menschen meist spontan zur Flucht – Betroffene müssen sich erst einmal in Sicherheit bringen und in der Nähe Schutz suchen. Später, wenn sich die Lage wieder beruhigt hat, kehren sie meist an ihren Herkunftsort zurück. Bei einer schleichenden Umweltveränderung ist es anders. Sie erfolgt über einen längeren Zeitraum, sorgt aber letztlich dafür, dass Menschen ihre Lebensgrundlage verlieren. Betroffene entscheiden sich dann eher für einen dauerhaften Fortzug. Insgesamt überwiegt innerstaatliche Migration. Wenn Staatsgrenzen überschritten werden, erfolgt klimawandelbedingte Migration meist über kurze Distanzen, z. B. in das Nachbarland. Aber die Folgen des Klimawandels können Migration auch verhindern – etwa wenn Menschen die Ressourcen verlieren, die sie brauchen, um überhaupt abwandern zu können.
Was bedeutet das für die Gestaltung einer vorausschauenden Migrationspolitik?
Prof. Leyendecker: Politisch muss Migration als Anpassungsstrategie ermöglicht werden; das betont auch das SVR-Jahresgutachten 2023. Dafür brauchen die Menschen finanzielle Ressourcen, Bildung sowie Netzwerke. Menschen, die von den Folgen des Klimawandels betroffen sind, müssen aber nicht zwangsläufig migrieren; die meisten wollen das auch gar nicht. Es gibt daher auch ein Recht zu bleiben, das ebenfalls gestärkt werden muss.
Was genau bedeutet das Recht zu bleiben?
Prof. Leyendecker: Es gibt verschiedene Gründe, warum Menschen ihren Herkunftsort nicht verlassen wollen. Sie wollen etwa ihre soziale Gemeinschaft oder die dortige Kultur nicht aufgeben. Zudem ist Migration eben auch eine Frage des Geldes und der Qualifikation. Nicht alle können sich so einen Schritt leisten: Menschen ohne Ausbildung finden an einem fremden Ort oft nur gering bezahlte Arbeit, ihnen droht der Abstieg in prekäre Lebensverhältnisse und davor haben sie Angst. Das Recht zu bleiben besagt, dass betroffene Personen erst einmal Unterstützung vor Ort bzw. in ihrem Herkunftsland erhalten sollten. Die Finanzierung der dafür nötigen Anpassungsmaßnahmen sollte durch die Staaten erfolgen, die maßgeblich für den Klimawandel verantwortlich sind. Wir sehen hier vor allem die Industrienationen in der Pflicht.
… weil sie die globale Erderwärmung mitverursacht haben?
Prof. Leyendecker: Ja. Es ist eine Art Wiedergutmachungsleistung. Die Länder des globalen Südens sind von den Folgen des Klimawandels besonders stark betroffen. Grund dafür ist einerseits ihre geografische Lage. Gleichzeitig stehen ihnen aber auch nicht genug finanzielle Ressourcen zur Verfügung. Sie können sich den Aufbau von Frühwarnsystemen, einen guten Katastrophenschutz oder die Finanzierung von Wiederaufbau- und Ausgleichsmaßnahmen weniger leisten. Die wirtschaftsstarken Länder sind hier im Vorteil. Sie können präventiv und reaktiv viel besser mit den Folgen des Klimawandels umgehen. Und das ist ein Gerechtigkeitsproblem, denn die wirtschaftlich starken und meist im globalen Norden zu findenden Länder sind aufgrund ihres hohen CO2-Ausstoßes in besonderem Maß für den Klimawandel verantwortlich.
„Bei der politischen Gestaltung sind auch Gerechtigkeitsfragen zu berücksichtigen, denn die Verantwortung für den Klimawandel und dessen Auswirkungen sind global wie auch innergesellschaftlich höchst ungleich und ungerecht verteilt.“
– Prof. Dr. Birgit Leyendecker
Was muss geschehen, damit hier ein Ausgleich geschaffen werden kann?
Prof. Leyendecker: Es muss vor allem in Anpassungsstrategien investiert werden – und das möglichst frühzeitig: Die Katastrophenvorsorge muss in den vom Klimawandel betroffenen Ländern und Regionen verbessert werden, es braucht mehr Resilienz und außerdem Maßnahmen, die die Menschen befähigen, sich auf die Veränderungen einzustellen. Mancherorts muss der Küstenschutz verbessert werden, andernorts müssen in der Landwirtschaft dürreresistente Pflanzensorten zugänglich gemacht werden. Entscheidend wird schließlich sein, in welchem Maße und wie schnell es gelingt, den CO2-Ausstoß weltweit zu begrenzen. Hier tragen die Industrienationen und somit auch Deutschland eine besondere Verantwortung.
Es sind unterschiedliche Ansätze, die der SVR vorschlägt. Wie könnten sie nachhaltig umgesetzt werden?
Prof. Leyendecker: Die Eindämmung des Klimawandels und seiner Folgen kann nur im Rahmen einer Gesamtstrategie gelingen. Hier sind alle politischen Handlungsebenen gefordert: globale, regionale und nationale, aber auch lokale Akteure und Akteurinnen. Außerdem gilt es, die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Politikfeldern stärker als bisher in den Blick zu nehmen. Es muss also ressortübergreifend gedacht und gearbeitet werden. Um faire Lösungen zu finden, braucht es u. a. ein globales Risikomanagement und entwicklungspolitische Ansätze, mit denen Anpassungsmaßnahmen vor Ort oder ein Technologietransfer umgesetzt werden können.
Dafür braucht es finanzielle Ressourcen. Was halten Sie vor diesem Hintergrund von globalen Klimafonds?
Prof. Leyendecker: Sie sind komplex und teilweise unübersichtlich, aber sie können helfen, die Folgelasten des Klimawandels auf mehr Schultern zu verteilen. Die Idee ist, dass finanzschwache Staaten, die von den negativen Folgen des Klimawandels besonders stark betroffen sind, zukünftig stärker finanziell unterstützt werden. Fonds können dabei an unterschiedlichen Stellen ansetzen, etwa indem sie Schritte zur Minderung von CO2-Emissionen, nachhaltige Entwicklung oder Anpassungsmaßnahmen finanzieren. Die Hauptverursachenden sollten hier auch den Hauptteil der Einzahlungen leisten. Wichtig ist dabei, dass die konventionelle Entwicklungshilfe nicht gekürzt wird. Beiträge für Klimafonds sind also als Ergänzung für entwicklungsförderndes Handeln zu verstehen – nicht als Ersatz.
Die Fragen stellte Meike Giordono-Scholz, Kommunikationsmanagerin in der SVR-Geschäftsstelle.