Presseinformation – Sachverständigenrat

SVR zur EU-Asylpolitik: Gemeinsames Handeln dringlich, Nachjustierung des EU-Asylkompromisses erforderlich

Angesichts der drastisch gestiegenen Ankunftszahlen auf Lampedusa und den insgesamt wieder deutlich steigenden Asylantragszahlen in Europa muss die Europäische Union Handlungsfähigkeit zeigen. Eine nachhaltige Migrationssteuerung kann nur gemeinsam erfolgen. Der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) nimmt dazu den im Juni vom EU-Rat beschlossenen Kompromissvorschlag zur Reform des europäischen Asyl- und Migrationsregimes zur Kenntnis. Er mahnt aber an, dass in der Umsetzung der Reformvorhaben menschen- und asylrechtliche Standards gewahrt bleiben müssen. Dies gilt insbesondere für die an den EU-Außengrenzen geplanten Asylverfahren.

Berlin, 20. September 2023. „Die jüngsten Ereignisse auf Lampedusa, aber auch die erhöhte Zuwanderung über mitteleuropäische Länder wie Polen und Tschechien machen einmal mehr deutlich, wie überfällig die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist. Allein Deutschland hat im vergangenen Jahr mehr als 1,1 Millionen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Auch die Zahl von Schutzsuchenden aus anderen Ländern ist wieder deutlich gestiegen. Nationale Maßnahmen allein werden etwa aufgrund des offenen Schengen-Raums nicht greifen. Gemeinsame Anstrengungen auf EU-Ebene sind deshalb besonders wichtig“, erläutert Prof. Dr. Hans Vorländer, Vorsitzender des SVR. „Das gemeinsame Asylsystem hat trotz vieler Defizite im Hinblick auf die Etablierung EU-weiter Standards bereits einen wichtigen Beitrag geleistet. Diesen Weg müssen die Mitgliedstaaten nun konsequent weitergehen. Ob das mit dem derzeit diskutierten Kompromissvorschlag erreicht werden kann, ist aber fraglich“, so Prof. Vorländer.

Die Reform des europäischen Asyl- und Migrationsregimes, auf die sich der EU-Rat am 8. Juni vorerst geeinigt hat und die Gegenstand der Trilogverhandlungen ist, sieht die Einführung von zwei Verordnungen vor. Bei der einen handelt es sich um Bestimmungen zu Asylverfahren, bei der anderen wird das Asyl- und Migrationsmanagement neu geregelt. Der SVR weist darauf hin, dass in der Umsetzung der beiden Verordnungen menschen- und asylrechtliche Standards zu berücksichtigen sind. Zugleich ruft er die Bundesregierung dazu auf, im weiteren Verlauf der Verhandlungen insbesondere auf folgende Punkte zu achten:

  • Die im Kompromissvorschlag vorgesehenen beschleunigten Grenzverfahren sind in ihren Grundelementen dem geltenden Recht durchaus vertraut. Sie müssen aber rechtssicher ausgestaltet sein. Personen, die sich im Grenzverfahren befinden, müssen dafür zu jedem Zeitpunkt Zugang zu unabhängiger Verfahrensberatung haben.
  • Die Unterbringung von Asylsuchenden in den geplanten geschlossenen Einrichtungen an den EU-Außengrenzen birgt erhebliche Probleme. Wie die gut erforschten großen Aufnahmeeinrichtungen in den Mitgliedstaaten oder Aufnahmelager an den Außengrenzen zeigen, sind Einschränkungen der Verfahrensqualität zu befürchten. Auch die Berücksichtigung besonderer Schutzbedürfnisse von vulnerablen Personen ist unter solchen Umständen gefährdet. Hier sind wirksame Schutzkonzepte zwingend.
  • Bei der Abschiebung von Personen ohne Asylberechtigung in ihre Herkunftsländer oder sogenannte sichere Drittstaaten ist unbedingt auf die Einhaltung des Flüchtlingsschutzes zu achten.
  • Der im Kompromissvorschlag vorgesehene sogenannte Solidaritätsmechanismus darf nicht dazu führen, dass einzelne EU-Mitgliedstaaten sich ganz der gemeinsamen Verantwortung entziehen.

„Beschleunigte Verfahren an den EU-Außengrenzen sind nicht per se rechtswidrig. Gleichwohl müssen Menschen, die dort eine Zulässigkeitsprüfung absolvieren müssen, wirksamen Zugang zum Rechtsschutz und zu einer unabhängigen Verfahrensberatung haben. Dass das mit der Umsetzung der bislang vereinbarten Beschlüsse verwirklicht werden kann, ist im Moment nicht erkennbar“, mahnt Prof. Vorländer. Zusätzlich sieht der SVR die Gefahr, dass die für die Prüfung vorgesehenen geschlossenen Unterkünfte schnell überfüllt sein könnten, weil etwa die Zulässigkeitsprüfungen länger dauern als vorgesehen oder Herkunftsstaaten und die von der EU als sicher eingestuften Drittstaaten die jeweils Abzuschiebenden nicht zurücknehmen. „Es muss dafür gesorgt werden, dass bei der Unterbringung ausreichende menschenrechtliche Standards einschließlich der UN-Kinderrechtskonvention eingehalten werden. Zustände wie in Moria dürfen sich nicht wiederholen“, ergänzt die Stellvertretende Vorsitzende des SVR, Prof. Dr. Birgit Leyendecker.

Rückführungen scheitern bislang aus vielerlei Gründen, besonders aufgrund mangelnder Kooperation der Herkunftsländer. So wurde im vergangenen Jahr in der EU nur etwa jede fünfte ausreisepflichtige Person abgeschoben. „Mit der Einführung von Grenzverfahren durch die EU wird sich das erst einmal nicht ändern. Um Rückführungen zu gewährleisten, müssen Migrationsabkommen ausgehandelt werden. Dabei darf die Verantwortung von der EU nicht einfach ausgelagert, sondern muss geteilt werden. Rücknahmeverpflichtungen müssen also auch Angebote umfassen, die im Interesse der Herkunftsländer sind. Es geht dabei vor allem um die Öffnung regulärer Zugangswege im Bereich der Arbeitsmigration und Migration zum Zweck der Aus- und Weiterbildung“, erläutert der SVR-Vorsitzende Prof. Vorländer.

Nach Ansicht des Sachverständigenrates gilt es zudem, die Resettlement-Kontingente auszuweiten. Das UN-Flüchtlingshilfswerk schätzt, dass 2023 weltweit mehr als zwei Millionen Menschen Bedarf für einen Aufnahmeplatz haben. Europa soll dabei mehr als 417.000 Menschen aufnehmen. Erst im Dezember vergangenen Jahres hat die EU hierzu eine erste Rahmenvereinbarung auf den Weg gebracht. „Diese Absichtserklärung muss jetzt mit Leben gefüllt werden. Es geht darum, besonders schutzbedürftigen Menschen einen sicheren Zugang nach Europa zu ermöglichen. Wir sprechen von Flüchtlingen, die bereits ein Screening durchlaufen haben und deren Aufnahme und Integration dementsprechend planbar gestaltet werden kann. Hier kann die Bundesregierung bereits vorhandene Expertise einbringen und durch ein entsprechend beziffertes Kontingent innerhalb der EU beispielhaft vorangehen“, so die Stellvertretende SVR-Vorsitzende Prof. Leyendecker.

Zusätzlich ist mehr staatlicher Einsatz und EU-weite Kooperation im Bereich der Seenotrettung nötig. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration sind seit 2014 mehr als 28.000 Menschen beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, ums Leben gekommen oder werden vermisst; 2023 sind es bereits über 2.300 Menschen. „Das Sterben im Mittelmeer ist unerträglich und muss beendet werden. Deshalb brauchen wir eine neue Mission zur staatlichen Seenotrettung auf europäischer Ebene. Es geht darum, gemeinsam mit den Mittelmeer-Anrainerstaaten gerettete Personen an einen sicheren Ort zu bringen, der internationalen Menschenrechtsstandards genügt“, stellt der SVR-Vorsitzende Prof. Vorländer fest.

„Der gemeinschaftliche Ansatz in der europäischen Flüchtlingspolitik ist mit Blick auf den Erhalt des Schengenraums sehr wichtig und die Interessen der Mitgliedstaaten liegen hier zum Teil weit auseinander. Wir appellieren in dieser Situation gleichwohl an die Bundesregierung, sich im Trilog dafür einzusetzen, dass sich alle Instrumente der Migrationssteuerung an den grundlegenden Menschen- und Flüchtlingsrechten orientieren“, so Prof. Vorländer.

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Über den Sachverständigenrat
Der Sachverständigenrat für Integration und Migration ist ein unabhängiges und interdisziplinär besetztes Gremium der wissenschaftlichen Politikberatung. Mit seinen Gutachten soll das Gremium zur Urteilsbildung bei allen integrations- und migrationspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie der Öffentlichkeit beitragen. Dem SVR gehören neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Hans Vorländer (Vorsitzender), Prof. Dr. Birgit Leyendecker (Stellvertretende Vorsitzende), Prof. Dr. Havva Engin, Prof. Dr. Birgit Glorius, Prof. Dr. Marc Helbling, Prof. Dr. Winfried Kluth, Prof. Dr. Steffen Mau, Prof. Panu Poutvaara, Ph.D., Prof. Dr. Sieglinde Rosenberger.

Weitere Informationen unter: www.svr-migration.de