Presseinformation – Sachverständigenrat

SVR: Neuer EU-Pakt zu Migration und Asyl löst bestehende Probleme nicht umfassend und vernachlässigt reguläre Zugangswege

Der Vorschlag der Europäischen Kommission sucht einen Weg aus der Krise der europäischen Migrationspolitik. Er ist jedoch in der Praxis in vielen Punkten voraussichtlich nicht umsetzbar und konzentriert sich zu stark auf die irreguläre Zuwanderung. Im Interesse der Migrantinnen und Migranten, der Schutzsuchenden, der Mitgliedstaaten und der gesamten EU muss letztere jedoch weiter an einer Lösung arbeiten, denn es geht um grundlegende Werte unserer Gesellschaften. Supranationale EU-Agenturen für Grenzschutz und Asyl sollten dazu beitragen, Verfahrensstandards – insbesondere mit Blick auf Menschenrechte – zu harmonisieren und die Qualität von Asylentscheidungen zu erhöhen.

Berlin, 28. September 2020. Die Europäische Kommission hat in ihren Vorverhandlungen mit den EU-Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament Kärrnerarbeit geleistet, um die weit auseinanderliegenden Positionen zusammenzubringen. Das ist unbedingt anzuerkennen. Der angekündigte „Neustart“ bleibt mit dem New Pact on Migration and Asylum jedoch aus: Es ist ein Kompromisspaket.

Eine erweiterte Registrierung und schnellere Asylverfahren an der Grenze sollen das überkommene Dublin-System ersetzen. Aber noch ist unklar, wie sich schnelle Asylverfahren und rechtsstaatliche Standards in der Praxis umsetzen lassen. Dazu wäre ein erheblicher Ressourceneinsatz notwendig. Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) wiederholt deshalb die bereits im Jahresgutachten 2017 erhobene Forderung, nach Frontex (European Border and Coast Guard Agency) nun auch das bisherige Asylunterstützungsbüro EASO (European Asylum Support Office) zu einer vollwertigen Agentur (EUAA, European Union Agency for Asylum) auszubauen und den supranationalen Agenturen mehr Befugnisse zu geben, als die Kommission vorschlägt, damit diese für schnelle und faire Asylverfahren sorgen, die im größeren Umfang europäisch überwacht werden.

Ein allgemeiner „Solidaritätsmechanismus“ soll nach den Plänen der Kommission an die Stelle einer obligatorischen Umverteilung von Asylsuchenden aufgrund einer verbindlichen Quote treten – ein Vorschlag, der schon mehrfach auf dem Brüsseler Verhandlungstisch lag, aber politisch leider nicht durchsetzbar ist. Stattdessen will die Kommission den Mitgliedstaaten die Wahl lassen zwischen der Aufnahme von Asylsuchenden und „Rückführungspatenschaften“, um abgelehnte Asylbewerber und -bewerberinnen zurückzuführen. Ob sich dieser Vorschlag als durchsetzbar erweist, muss sich bei den anstehenden Verhandlungen im Rat und zwischen Rat und Europäischem Parlament zeigen.

Die SVR-Vorsitzende Prof. Dr. Petra Bendel vermisst die Balance in der rechtlichen Verbindlichkeit zwischen solchen Maßnahmen, die im Zusammenhang mit Asylanträgen stehen, und jenen, die sich auf legale Zugangswege, Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern, Seenotrettung und Integration beziehen: „Der Vorschlag enthält unterschiedlich verbindliche Rechtsformen: Für Pre-Screening, Verfahren an der Grenze und den sog. Solidaritätsmechanismus schlägt die Kommission verbindliche Verordnungen vor. Die Inhalte zu legalen Zugangswegen, zur Koordination der Seenotrettung und zur Kooperation mit Herkunfts- und Transitstaaten dagegen bleiben unverbindlich, vage oder werden in die Zukunft verschoben. Darüber hinaus halte ich den vorgeschlagenen Zeitplan für überambitioniert.“

Der Stellvertretende SVR-Vorsitzende Prof. Thym unterstreicht die Notwendigkeit, bei der Gesetzgebung die praktische Realisierbarkeit mitzudenken und trotz aller Probleme am Ziel eines europäischen Asylsystems festzuhalten: „Wir erleben seit Jahren, dass die europäische Gesetzgebung in der Praxis häufig nicht funktioniert. Die Kommission muss sicherstellen, dass schnelle und faire Verfahren nicht nur auf dem Papier bestehen. Dennoch bleibt die Konsenssuche unabdingbar, denn nur mit neuen Instrumenten wird es uns gelingen, dass die geltenden Regeln nicht länger von einigen Mitgliedstaaten missachtet werden.“

Um diesen Zustand zu beenden, braucht es zuallererst einen gemeinsamen politischen Willen. „Die Harmonisierung der Asylpolitik bleibt die große Aufgabe der EU. Die europäischen Gesetzgeber dürfen über ihren Streitigkeiten nicht vergessen, dass es im Kern um die Steuerung von Migration und um die Rechte von Schutzsuchenden geht“, so Petra Bendel.

Damit die EU ein einheitliches und funktionierendes Schutzsystem bietet, müssen die Mitgliedstaaten dessen Normen konsequent umsetzen und sowohl zwischenstaatlich als auch in supranationalen Institutionen wie der geplanten EUAA zusammenarbeiten. Und um Migrationsbewegungen gering- und mittelqualifizierter Personen aus Nicht-EU-Ländern zu steuern, sollten Deutschland und die EU die Kooperation mit Herkunftsländern vertiefen und länderspezifische Angebote machen. Analysen und Empfehlungen dazu finden sich etwa in der Kurzinformation „EASO reloaded“ und in der Studie „Legale Wege nach Europa“, die der SVR-Forschungsbereich vorgelegt hat.

Der SVR hat im März 2020 das Positionspapier „Solidarisch, praktikabel, krisenfest: für eine neue Asyl- und Migrationspolitik der Europäischen Union. Empfehlungen an die europäischen Institutionen und die Bundesregierung für die aktuelle Legislaturperiode der EU“ veröffentlicht, das Sie unter diesem Link finden.

Weitere Publikationen:

SVR-Jahresgutachten 2017

Kurzinformation „EASO reloaded: Kann die neue Asylagentur der EU ein einheitliches Schutzsystem garantieren?“

Studie „Legale Wege nach Europa. Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten für Personen ohne Schutzperspektive“

Die Pressemitteilung steht Ihnen hier zum Download zur Verfügung.

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 Über den Sachverständigenrat

Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration geht auf eine Initiative der Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung zurück. Ihr gehören sieben Stiftungen an. Neben der Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung sind dies: Bertelsmann Stiftung, Freudenberg Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Stifterverband und Vodafone Stiftung Deutschland. Der Sachverständigenrat ist ein unabhängiges und interdisziplinär besetztes Expertengremium, das zu integrations- und migrationspolitischen Themen Stellung bezieht und handlungsorientierte Politikberatung anbietet. Die Ergebnisse seiner Arbeit werden in einem Jahresgutachten veröffentlicht. Das SVR-Jahresgutachten 2020 wird gefördert durch das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat.

Dem SVR gehören neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Petra Bendel (Vorsitzende), Prof. Dr. Daniel Thym (Stellvertretender Vorsitzender), Prof. Dr. Claudia Diehl, Prof. Dr. Viola B. Georgi, Prof. Dr. Christian Joppke, Prof. Dr. Birgit Leyendecker, Prof. Panu Poutvaara, Ph.D., Prof. Dr. Sieglinde Rosenberger und Prof. Dr. Hans Vorländer.

Weitere Informationen unter: www.svr-migration.de