Klimawandel: Wie sich das Migrationsgeschehen verändert und was politisch zu tun ist
Der Klimawandel ist eine der größten Herausforderungen der Gegenwart. Mit seinen Auswirkungen auf das Migrationsgeschehen beschäftigt sich der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) in seinem Jahresgutachten 2023. Zur Bewältigung von klimawandelbedingter Migration sollte das gesamte migrationspolitische Instrumentarium genutzt werden. Mit drei Instrumenten – dem Klima-Pass, der Klima-Card und dem Klima-Arbeitsvisum – kann die Bundesregierung international eine Vorreiterrolle einnehmen.
Berlin, 9. Mai 2023. Eine der größten Herausforderungen der Gegenwart ist die Bekämpfung des Klimawandels. Klimawandelbedingte Umweltveränderungen und Extremwetterereignisse verschärfen nicht nur bestehende soziale, ökonomische oder politische Problemlagen, sondern erhöhen auch den Migrationsdruck. Das zeigt die Forschung. „Klimawandelbedingte Migration findet vor allem innerstaatlich statt bzw. über kurze Distanzen, etwa in das Nachbarland. Zahlreiche Länder des globalen Südens sind dabei besonders stark betroffen. Das liegt nicht nur an ihrer geografischen Lage, sondern auch daran, dass ihnen weniger finanzielle Ressourcen für Anpassungsmaßnahmen zur Verfügung stehen. Hier gilt es, faire Lösungen für besonders vulnerable Menschen und Länder zu finden“, erläutert der SVR-Vorsitzende Prof. Dr. Hans Vorländer anlässlich der Vorstellung des Jahresgutachtens 2023.
Der Klimawandel erzeugt dabei keine gänzlich neue und klar abgrenzbare Form der Migration, sondern ist ein Metafaktor, der bestehende Migrationsmuster beeinflusst. Klimawandelinduzierte Umweltveränderungen und Extremwetterereignisse verschärfen vorhandene Probleme in den Herkunftsstaaten und können darüber Migration auslösen. „Wenn es nicht gelingt, den Klimawandel einzudämmen, wird Klimamigration einerseits weiter zunehmen. Andererseits können die Folgen des Klimawandels Migration auch hemmen oder diese sogar verhindern – etwa wenn Menschen die Ressourcen verloren gehen, die sie brauchen, um überhaupt abwandern zu können“, ergänzt Prof. Dr. Birgit Leyendecker, Stellvertretende Vorsitzende des SVR. Politisch gilt es daher, Migration als Anpassungsstrategie zu ermöglichen und zugleich das ‚Recht zu bleiben‘ zu stärken. Damit betroffene Menschen ihren Herkunftsort nicht verlassen müssen, braucht es Investitionen etwa in bessere Klimaschutzmaßnahmen oder eine vernünftige Katastrophenvorsorge vor Ort.
Gesamtes Instrumentarium der Flüchtlings- und Migrationspolitik nutzen
Für den politischen Umgang mit klimawandelbedingter Migration empfiehlt der SVR, das gesamte migrationspolitische Instrumentarium zu nutzen. „Migrations- und flüchtlingspolitische Gestaltungsoptionen sollten fester Bestandteil der klimapolitischen Agenda werden. Die Zeit drängt“, sagt der SVR-Vorsitzende Prof. Vorländer. Bei plötzlichen Ereignissen eignen sich Maßnahmen aus der Flüchtlingspolitik wie die Vergabe von humanitären Visa, eine temporäre Schutzgewährung oder auch die Aussetzung von Rückführungen in betroffene Länder und Regionen. Migration sollte außerdem als gestaltender Umgang mit schleichenden Umweltveränderungen begriffen und ermöglicht werden. Hier sind eher migrationspolitische Instrumente gefragt. Das können Arbeitsvisa sein, aber auch bestehende Abkommen zur Personenfreizügigkeit auf regionaler Ebene haben sich als sehr hilfreich erwiesen, um klimawandelbedingte Migration im Sinne einer Anpassungsstrategie zu ermöglichen. So können etwa Rücküberweisungen an Angehörige im Herkunftsland gesunkenes Einkommen ausgleichen oder Investitionen ermöglichen, mit denen eine Anpassung an neue Umweltbedingungen finanziert werden kann.
Deutschland sollte international eine Vorreiterrolle einnehmen
„Auch wenn der Klimawandel und dessen Folgen globale Herausforderungen darstellen, kommt den Nationalstaaten weiterhin eine maßgebliche Bedeutung zu“, erläutert der SVR-Vorsitzende. Das gilt gerade auch für die Gestaltung von Klimamigration, denn Migrationssteuerung ist nach wie vor in weiten Teilen eine nationalstaatliche Angelegenheit. Wenn es also darum geht, schnelle und effiziente Maßnahmen anzustoßen, ist nach Auffassung des SVR aufgrund der Schwierigkeiten, multinationale und internationale Regelungen zu etablieren, vor allem die nationale Ebene gefordert. Dort erprobte Handlungsansätze können dann im regionalen und internationalen Kontext als Vorbild dienen. Der SVR schlägt den politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern in Deutschland drei Instrumente vor, um den Herausforderungen klimawandelbedingter Migration zu begegnen: den Klima-Pass, die Klima-Card und das Klima-Arbeitsvisum. „Diese drei aufenthaltsrechtlichen Instrumente sind als Antworten auf unterschiedliche Ausgangslagen konzipiert. Sie sind danach gestaffelt, wie stark die Herkunftsländer vom Klimawandel betroffen sind“, fasst Prof. Vorländer zusammen.
Mit drei migrationspolitischen Instrumenten auf Herausforderungen reagieren
Der Klima-Pass, ein Vorschlag des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), den der SVR aufgegriffen und im Gutachten konkretisiert hat, ist für Personen aus Ländern konzipiert, die durch den Klimawandel ihr gesamtes Territorium verlieren. Sie erhalten ein Daueraufenthaltsrecht. Die Klima-Card ist für Menschen gedacht, die ihr Land vorübergehend aufgrund starker Zerstörung verlassen müssen; wegen des breiteren Anwendungsbereichs ist dabei eine länderspezifische Kontingentierung erforderlich. Hier handelt es sich um einen befristeten Aufenthaltstitel nach dem Vorbild humanitärer Aufnahmeprogramme; parallel müssen im Herkunftsland Anpassungsmaßnahmen umgesetzt werden, damit perspektivisch eine Rückkehr möglich wird. Das Klima-Arbeitsvisum, mit dem ein leichterer Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt ermöglicht werden kann, würde nach dem Vorbild der Westbalkan-Regelung für ein gewisses Kontingent an Personen aus noch zu benennenden Staaten gelten. Ziel ist, vom Klimawandel Betroffenen durch alternative Einkommensquellen neue Perspektiven zu eröffnen. „Das Klima-Arbeitsvisum ist ein besonders innovatives Instrument. Bislang gibt es international kaum Migrationsprogramme, mit deren Hilfe Abwanderung aufgrund schleichender klimawandelbedingter Umweltveränderungen gesteuert werden kann. Es gibt regionale Freizügigkeitsabkommen, die teilweise indirekt greifen. Mit dem Klima-Arbeitsvisum aber könnte reguläre Migration auch im internationalen Kontext ermöglicht werden“, erläutert Prof. Vorländer.
Migrationspolitik als Element einer größeren Gesamtstrategie begreifen
Die vom SVR empfohlenen Maßnahmen aus dem Spektrum der Migrationspolitik sind als Bausteine einer größeren Gesamtstrategie zu verstehen. Die Folgen des menschengemachten Klimawandels erfordern rasches Handeln auf allen politischen Ebenen und in vielen Politikfeldern, aber auch in Wirtschaft und Gesellschaft. „Entscheidend wird sein, in welchem Maße und wie schnell es gelingt, den CO2-Ausstoß weltweit zu begrenzen. Zu dieser Gesamtstrategie gehören neben der Migrationspolitik zudem eine Klimaaußenpolitik, die migrationspolitische Aspekte einschließt, sowie eine Entwicklungspolitik, die Anpassungsmaßnahmen umfasst, Länder beim Umgang mit der empirisch dominanten Binnenwanderung unterstützt und Katastrophenhilfe vorsieht“, betont die Stellvertretende SVR-Vorsitzende Prof. Leyendecker. „Staaten, die einen hohen CO2-Ausstoß haben und viele natürliche Ressourcen verbrauchen, tragen eine besondere Verantwortung, die eigenen Emissionen schnell zu verringern und andere überproportional betroffene Länder in Bezug auf Klimaschutz und notwendige Anpassungsmaßnahmen finanziell und technologisch zu unterstützen.“
Weitere Themen im SVR-Jahresgutachten 2023
- Prognosen und Szenarien zu klimawandelbedingter Migration
- Möglichkeiten und Grenzen einer globalen Governance von Klimamigration
- Gestaltung klimawandelbedingter Migration im regionalen Kontext
Weitere Informationen können Sie hier herunterladen:
Das SVR-Jahresgutachten 2023 können Sie hier herunterladen.
Das Faktenpapier zum Jahresgutachten steht unter diesem Link zur Verfügung.
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Über den Sachverständigenrat
Der Sachverständigenrat für Integration und Migration ist ein unabhängiges und interdisziplinär besetztes Gremium der wissenschaftlichen Politikberatung. Mit seinen Gutachten soll das Gremium zur Urteilsbildung bei allen integrations- und migrationspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie der Öffentlichkeit beitragen. Dem SVR gehören neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Hans Vorländer (Vorsitzender), Prof. Dr. Birgit Leyendecker (Stellvertretende Vorsitzende), Prof. Dr. Havva Engin, Prof. Dr. Birgit Glorius, Prof. Dr. Marc Helbling, Prof. Dr. Winfried Kluth, Prof. Dr. Steffen Mau, Prof. Panu Poutvaara, Ph.D., Prof. Dr. Sieglinde Rosenberger.
Weitere Informationen unter: www.svr-migration.de