Krieg in der Ukraine: SVR begrüßt Pläne, die Massenzustrom-Richtlinie zu aktivieren
Angesichts der aktuellen Lage in der Ukraine unterstützt der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) das Vorhaben von Europäischer Union (EU) und Bundesregierung, schnelle und unbürokratische Aufnahme für vom Konflikt betroffene Menschen in der EU zu gewähren. Auch die Ukraine, die Erstaufnahmeländer und Nichtregierungsorganisationen vor Ort müssen finanziell und operativ unterstützt werden.
Berlin, 2. März 2022. „Mit der Aufnahme von geflüchteten Menschen aus der Ukraine im Rahmen eines vereinfachten Verfahrens kann die Europäische Union größtmögliche Solidarität zeigen. Es ist ein wichtiges Zeichen: Wir in Europa stehen zusammen und helfen den vom Krieg Betroffenen“, sagt Prof. Dr. Petra Bendel, Vorsitzende des SVR. „Es sind vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen, die sich vor den russischen Angriffen in Sicherheit bringen. Mit Hilfe der Richtlinie zur vorübergehenden Schutzgewährung erhalten sie einen zeitlich befristeten Aufenthaltsstatus und damit Zugang zu sozialen Mindeststandards, ohne ein für alle Beteiligten zeitaufwendiges Asylverfahren durchlaufen zu müssen. Unbürokratische Hilfe ist darüber hinaus auch für andere Drittstaatsangehörige erforderlich, zum Beispiel für Studierende ohne ukrainischen Pass“, so die SVR-Vorsitzende.
Die Richtlinie 2001/55/EG des Rates der Europäischen Union (die sog. Massenzustrom-Richtlinie) wurde 2001 infolge der Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien verabschiedet und bietet einen Mechanismus, über den Vertriebene aus Drittländern, die nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können, schnell aufgenommen werden können. „Die Richtlinie wurde bisher noch nie angewandt. Dabei hat sie zwei wichtige Vorteile: Wenn viele Menschen aufgrund einer Notsituation gleichzeitig ihre Heimat verlassen müssen, gibt sie ihnen die Garantie eines vorübergehenden Schutzes. Zudem erhalten sie Zugang zu wichtigen Rechten wie Unterbringung und sozialen Leistungen sowie zu Bildung und Arbeit in den EU-Aufnahmestaaten. Außerdem ermöglicht sie eine solidarische Abstimmung unter den Mitgliedstaaten, welche die Geflüchteten gemäß ihrer Kapazität verteilen. Deshalb ist es so wichtig, dass der Rat der Europäischen Union die Richtlinie jetzt aktiviert, um mit den Folgen des Ukraine-Krieges umzugehen“, erklärt Prof. Bendel.
Vorschläge, die Richtlinie anzuwenden, hatten im Rat bislang nie die erforderliche qualifizierte Mehrheit erreicht. Ein Grund hierfür war die Uneinigkeit darüber, wie die aufgenommenen Flüchtlinge und die damit einhergehenden Kosten innerhalb der EU verteilt werden sollen. „Es geht dabei nicht nur um Zahlen – hier ist der politische Wille der EU-Mitgliedstaaten ausschlaggebend“, erklärt Prof. Dr. Daniel Thym, stellvertretender Vorsitzender des SVR. „Die Richtlinie schreibt nicht vor, wie die Belastungen konkret auf die Mitgliedstaaten zu verteilen sind. Die in den vergangenen Tagen erkennbare große Solidarität und Aufnahmebereitschaft stimmt uns optimistisch, dass jetzt darüber Einigkeit besteht, dass alle Länder sich an der Aufnahme beteiligen.“ Daneben müssen die Nachbarländer und Nichtregierungsorganisationen finanziell und operativ unterstützt werden, so dass dort humanitäre Hilfe geleistet und Aufnahmekapazitäten gestärkt werden können. Das gilt auch für die zahlreichen Binnenvertriebenen in der Ukraine.
Die Umsetzung des temporären Schutzes erfolgt in Deutschland nach § 24 AufenthG. Demnach werden Flüchtlinge, die auf Grundlage eines Beschlusses des Rates der Europäischen Union vorübergehend Schutz erhalten, durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gemäß Königsteiner Schlüssel auf die Bundesländer verteilt, sofern kein abweichender Schlüssel vereinbart wird. Dort wird ihnen ein Wohnort zugewiesen; eine Arbeitserlaubnis kann erteilt werden. „Hier empfehlen wir großzügige Regelungen. Bei der Verteilung der Menschen in Deutschland sollte auf persönliche Netzwerke geachtet werden, wo sie bestehen. Dies ist im Interesse der Kriegsflüchtlinge wie der aufnehmenden Kommunen. Kinder sollten schnellstmöglich in die Kita und Schule gehen, Jugendliche eine Ausbildung machen können und Erwachsene schnell und unbürokratisch eine Arbeitserlaubnis erhalten, so wie es die Richtlinie auch vorsieht“, sagt Prof. Thym. „Die Erfahrung mit der Zuwanderung aus der Ukraine und deren Nachbarländern zeigt, dass viele Personen schnell einen Job finden dürften. Deutschland sollte dies als Chance sehen, den Übergang in den Arbeitsmarkt und die Ausbildung zu forcieren. Bei der Umsetzung ist eine enge Abstimmung zwischen Bund, Ländern und Kommunen unbedingt nötig. Die Kommunen müssen im Bedarfsfall unterstützt werden, damit sie Kapazitäten zur Aufnahme wiederaufbauen können.“
Zunächst einmal geht es um eine rasche Aufnahme; perspektivisch können Personen mit entsprechendem Schutzstatus auch einen Antrag auf Asyl stellen. Außerdem ist eine Verfestigung des Aufenthalts über die entsprechenden Optionen des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes zur Erwerbstätigkeit oder zur (Weiter)qualifizierung möglich.
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Über den Sachverständigenrat
Der Sachverständigenrat für Integration und Migration ist ein unabhängiges und interdisziplinär besetztes Gremium der wissenschaftlichen Politikberatung. Mit seinen Gutachten soll das Gremium zur Urteilsbildung bei allen integrations- und migrationspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie der Öffentlichkeit beitragen. Dem SVR gehören neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Petra Bendel (Vorsitzende), Prof. Dr. Daniel Thym (Stellvertretender Vorsitzender), Prof. Dr. Viola B. Georgi, Prof. Dr. Marc Helbling, Prof. Dr. Birgit Leyendecker, Prof. Dr. Steffen Mau, Prof. Panu Poutvaara, Ph.D., Prof. Dr. Sieglinde Rosenberger und Prof. Dr. Hans Vorländer.
Weitere Informationen unter: www.svr-migration.de