Neue Wege, neue Hürden? Mögliche Folgen der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts für vulnerable Gruppen
Am 27. Juni tritt das Gesetz zur Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts in Kraft. Neben deutlichen Liberalisierungen bei der Einbürgerung bringt es auch Verschärfungen mit sich. So wird künftig die Voraussetzung der Lebensunterhaltssicherung strenger gehandhabt; Ausnahmeregelungen sind weitgehend abgeschafft worden. Der wissenschaftliche Stab des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR) hat vor diesem Hintergrund untersucht, welche praktischen Auswirkungen die Änderung für Betroffene und Behörden haben kann und was Menschen in Deutschland darüber denken.
Berlin, 20. Juni 2024. Bislang hatten Ausländerinnen und Ausländer, die Sozialleistungen erhalten, unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf Einbürgerung. Wenn sie alle sonstigen Bedingungen erfüllten und den Bezug staatlicher Leistungen nicht zu vertreten hatten, konnte ihr Antrag berücksichtigt werden. Das ändert sich mit dem neuen Staatsbürgerschaftsrecht. „Um den Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft zu vereinfachen und zu beschleunigen, wurde an ein paar entscheidenden Stellschrauben gedreht. So wurden die Voraufenthaltszeiten reduziert und Mehrstaatigkeit wird nun grundsätzlich hingenommen. Gleichzeitig wurde die Berechtigung für eine Anspruchseinbürgerung eingeschränkt“, so Dr. Jan Schneider, Leiter des Bereiches Forschung beim SVR. Wer etwa aus gesundheitlichen Gründen seinen Arbeitsplatz verliert oder wegen Kinderbetreuung oder der Pflege von Angehörigen nicht vollerwerbstätig sein kann, hat künftig keinen Einbürgerungsanspruch mehr, sondern muss den Weg über die Härtefallregelung der Ermessenseinbürgerung nehmen.
„Das bedeutet, dass diese Antragstellenden beim Zugang zu politischen Teilhaberechten mit mehr Einschränkungen konfrontiert sind. Wir sehen hier ein Diskriminierungsrisiko. Das gilt etwa für Menschen mit Behinderung, die oftmals nicht so viel verdienen können, dass sie ihren Lebensunterhalt selbständig bestreiten können. Aber auch Alleinerziehende und Pflegende werden aufgrund der Verschärfung potenziell benachteiligt. Hier sind besonders Frauen betroffen, denn sie machen den Großteil dieser beiden Gruppen aus,“ so Dr. Schneider, Co-Autor des SVR-Policy Briefs.
Weil viele Personen im Leistungsbezug künftig nur noch im Rahmen einer Ermessensentscheidung Deutscher oder Deutsche werden können, ist zudem mit einem höheren Aufwand für Behörden zu rechnen. „Eine Ermessensentscheidung ist mit viel mehr Arbeit verbunden. Das gilt vor allem dann, wenn die rechtlichen Grundlagen schwer zu fassen sind“, erläutert Dr. Fabian Gülzau, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim SVR und Co-Autor des Policy Briefs. „Ermessenseinbürgerungen werden grundsätzlich restriktiv behandelt, und daran wird sich trotz Härtefallregelung zunächst nichts ändern. Zwar soll in den sog. Vorläufigen Anwendungshinweisen (StAG-VAH) des zuständigen Bundesministeriums des Innern und für Heimat klargestellt werden, dass die Behörden bei Leistungsbezug von Menschen in Ausbildung sowie bei Behinderten, Alleinerziehenden oder Pflegenden einen Härtefall prüfen sollen. Mit den Anwendungshinweisen bekommen die Behörden für die Umsetzung der Reform gewisse Leitlinien an die Hand. Diese Hinweise sind jedoch nicht bindend. Auch die derzeit gültige Verwaltungsvorschrift zum Staatsangehörigkeitsrecht ist wenig hilfreich – sie wurde zuletzt vor zwanzig Jahren aktualisiert und ist dementsprechend veraltet. Mit negativen Auswirkungen ist zu rechnen: Mehr Ermessensentscheidungen bedeuten, dass Einbürgerungsverfahren bearbeitungsintensiver und dadurch auch langsamer werden.“
Die öffentliche Diskussion zur Frage der Lebensunterhaltssicherung wird durchaus kontrovers geführt. Im Zuge einer Onlinestudie hat der wissenschaftliche Stab des SVR ermittelt, wie Menschen in Deutschland zu Ausnahmeregelungen und Restriktionen in Zusammenhang mit der Einbürgerung vulnerabler Gruppen eingestellt sind. Dabei zeigt sich, dass die Bevölkerung gespalten ist. „Unterstützt werden vor allem Auszubildende, Studierende, Personen, die Angehörige pflegen und Menschen mit Behinderung. Gut vier von zehn Befragten sprechen sich hier tendenziell für eine Ausnahmeregelung aus. Möglicherweise gehen die Befragten davon aus, dass der Leistungsbezug bei Auszubildenden und Studierenden sowie bei pflegenden Personen nur eine vorübergehende Erscheinung ist. Hingegen lehnt ein Viertel der Befragten bei erwerbsunfähigen, alleinerziehenden und Zugewanderten im Rentenalter eine Ausnahmeregelung grundsätzlich ab. Hier scheint eine implizite Bedürfnishierarchisierung durch“, fasst Dr. Gülzau zusammen. „Bei der Bewertung spielten Sorgen über Zuwanderung eine wichtige Rolle: Menschen, die sich solche Sorgen machen, sind in Bezug auf Ausnahmeregelungen beim Einbürgerungskriterium der Lebensunterhaltssicherung viel kritischer eingestellt als Befragte ohne Sorgen.“
Die ambivalente Einstellung der Bevölkerung spiegelt damit in gewisser Weise den Interessenskonflikt wider, der sich im Zuge der parlamentarischen Beratungen zur Reform gezeigt hat. „Einbürgerung wird von vielen Menschen in Deutschland offenbar direkt mit Fragen der Zuwanderung assoziiert“, sagt Dr. Schneider. „Das Staatsangehörigkeitsrecht kann aber nicht als unmittelbarer Migrationsanreiz verstanden werden, denn die Einbürgerung ist an viele Voraussetzungen gebunden. Trotz der Vereinfachungen durch die Reform wird sich das nicht ändern. Dies sollte besser und deutlicher kommuniziert werden.“
Der wissenschaftliche Stab des SVR empfiehlt, zügig Rechtssicherheit zu schaffen und die Neuregelungen im Staatsangehörigkeitsgesetz zu evaluieren. Dabei sollten Daten über die Auswirkungen auf jene Betroffenengruppen gesammelt werden, die früher unter die Ausnahmeregelung fielen. Zudem sollte der entstandene Verwaltungsmehraufwand erfasst werden, um unbeabsichtigten Auswirkungen der Reform schnell und empirisch fundiert entgegengenwirken zu können.
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