Welche kulturellen Unterschiede nehmen Flüchtlinge wahr – und wie gehen sie damit um?
Die wissenschaftlichen Befunde zu dieser Frage sind noch lückenhaft. Der SVR-Forschungsbereich hat deshalb eine Befragung von Flüchtlingen ausgewertet. Fazit: Ein Teil der Flüchtlinge nimmt teilweise deutliche Unterschiede zwischen ihren Herkunftskulturen und der hiesigen Kultur wahr. Mit einigen Unterschieden können die meisten Flüchtlinge nach eigener Aussage gut umgehen – das gilt etwa für den hohen Wert, den Menschen hier bestimmten Freiheits- und Gleichheitsrechten beimessen, oder die Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Andere Unterschiede stellen für sie eine größere Herausforderung dar, etwa der hiesige Umgang mit älteren Menschen, mit Homosexualität oder mit dem Stellenwert der Familie.
Berlin, 19. September 2019. Faktische oder angenommene kulturelle Unterschiede zwischen der deutschen Aufnahmegesellschaft und den Menschen in Herkunftsländern von Flüchtlingen bieten regelmäßig Anlass für Diskussionen. Nach wie vor gibt es jedoch nur wenig durch Forschung gesichertes Wissen über die Wertvorstellungen von Flüchtlingen – zumal „Flüchtlinge“ eine sehr heterogene Gruppe bilden: Die über 1,8 Millionen Menschen, die zwischen 2014 und 2018 einen Asylantrag in Deutschland gestellt haben, sind Individuen mit jeweils eigenen Erfahrungen aus verschiedenen Herkunftsländern, und sie sind aus unterschiedlichen Gründen geflohen. Es ist daher naheliegend, dass auch ihre Wertvorstellungen vielfältig sind. Der SVR-Forschungsbereich hat in Kooperation mit der Robert Bosch Stiftung Flüchtlinge hierzu befragt. Der Policy Brief „Andere Länder, andere Sitten? Welche kulturellen Unterschiede Flüchtlinge wahrnehmen – und wie sie damit umgehen“ bestätigt einige Befunde bereits vorliegender Studien und fügt dem wissenschaftlichen Erkenntnismosaik einen weiteren Stein hinzu.
„Wir haben zwischen Juli 2017 und Januar 2018 369 Flüchtlinge befragt, wie sie die Einstellungen der Menschen in ihrem Herkunftsland im Vergleich zu den Einstellungen der Menschen in Deutschland einschätzen“, erläutert Dr. Cornelia Schu, die Direktorin des SVR-Forschungsbereichs. „Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ für alle Flüchtlinge in Deutschland. Die Stichprobe spiegelt aber die wichtigsten Herkunftsländer von Asylsuchenden wider, somit kann sie das Gros der seit 2014 eingetroffenen Flüchtlinge abbilden. Die Zahlen lassen Schlüsse zu, welche der Politik und der Zivilgesellschaft helfen können, Integrationsprozesse zu begreifen und bestenfalls Hürden zu beseitigen.“
Bei den meisten Aspekten nehmen die Befragten mehrheitlich keine Unterschiede wahr. Zugleich beobachtet ein Teil der befragten Flüchtlinge durchaus kulturelle Unterschiede. Dr. Timo Tonassi, Autor des Policy Briefs, nennt ein Beispiel: „Rund 80 Prozent der Befragten sind der Auffassung, dass es den Menschen in Deutschland sehr wichtig ist, dass alle die gleichen Rechte haben und vor dem Gesetz gleich sind – bezogen auf Männer und Frauen sogar gut 85 Prozent. Dagegen meinen nur rund 57 Prozent der Befragten, dass den Menschen in ihrer Heimat die Gleichheit vor dem Gesetz sehr wichtig ist, bezogen auf die Gleichberechtigung der Geschlechter meinen das nur fast 49 Prozent.“ Eine deutliche Mehrheit kommt nach eigener Einschätzung mit diesen Unterschieden sehr leicht oder leicht klar: fast 80 Prozent bei der gesetzlichen Gleichbehandlung, über 70 Prozent mit Blick auf die Gleichberechtigung der Geschlechter.
In anderen Bereichen fällt es den befragten Flüchtlingen dagegen schwerer, sich auf wahrgenommene Unterschiede einzustellen. Das betrifft z. B. den in Deutschland aus Sicht der Flüchtlinge geringeren Stellenwert der Familie, den weniger repektvollen Umgang mit älteren Menschen oder das Thema Homosexualität. Mit Blick auf Letzteres erläutert Dr. Tonassi: „Rund 40 Prozent der Befragten, die hier Unterschiede wahrnehmen, antworten, dass es ihnen schwer oder sehr schwer fällt, sich auf diese einzustellen. Das ist potenziell eine Herausforderung für die Aufnahmegesellschaft und die Geflüchteten. Man kann daraus aber nicht schließen, dass eine skeptische Haltung auch mit einem abwertenden Verhalten einhergeht.“
Die Analyse kommt zu dem Schluss: Staatliche Integrationsmaßnahmen können eine Wissensbasis zu hierzulande geltenden Wertvorstellungen legen, man sollte ihre Wirkung aber nicht überschätzen, da gelebte Alltagserfahrungen für die kulturelle Integration zentral sind. Daher gelte es, die Begegnung und den direkten Austausch zwischen Aufnahmegesellschaft und Neuankömmlingen zu fördern. Außerdem sollten Potenziale, die sich aus kulturellen Unterschieden ergeben können, genutzt werden. Raphaela Schweiger, Senior Projektmanagerin im Bereich Gesellschaft der Robert Bosch Stiftung, ergänzt: „Viele Geflüchtete sind im Ausbildungsalter, die Zahl Pflegebedürftiger wächst in Deutschland, während in der Pflegebranche Arbeitskräfte fehlen. Der oft große Respekt gegenüber Älteren könnte ein guter Ausgangspunkt sein, um mehr Flüchtlinge in Deutschland für die Arbeit in Pflegeberufen zu gewinnen.“
Der Policy Brief stützt sich auf die Datenbasis des SVR-Integrationsbarometers 2018. Die Befragung erfolgte telefonisch. Die Interviewten erfüllten drei Kriterien: 2014 oder später nach Deutschland eingereist; Antrag auf Asyl eingereicht oder Einreichen geplant; Herkunftsland Afghanistan, Ägypten, Albanien, Eritrea, Irak, Iran, Nigeria, Pakistan, Somalia, Syrien oder Tunesien. Die drei häufigsten Herkunftsländer in der Stichprobe sind Syrien mit 136 Personen bzw. einem Anteil von 37 Prozent, Afghanistan mit 100 Personen bzw. 27 Prozent und Irak mit 32 Personen bzw. neun Prozent.
Sie können den Policy Brief und die Infografik hier herunterladen. Die Pressemitteilung steht Ihnen hier zum Download zur Verfügung.
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