Koalitionsvertrag: Starkes Bekenntnis zum Einwanderungsland
Der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) begrüßt das im Koalitionsvertrag der voraussichtlich nächsten Bundesregierung festgeschriebene Bekenntnis zum Einwanderungsland und die wichtigen Signale, die mit einem liberalisierten Staatsangehörigkeitsrecht gesetzt werden. Eine stärkere Diversitätsorientierung und ein Bekenntnis zu Chancengleichheit unabhängig von der Herkunft entsprechen der SVR-Philosophie des Mainstreaming. In punkto Zuwanderung gibt es noch Konkretisierungsbedarf.
Berlin, 3. Dezember 2021. „Deutschland ist ein Einwanderungsland. Dass wir diesen Satz in einem Koalitionsvertrag lesen können, freut uns sehr: Er war überfällig“, erklärt die SVR-Vorsitzende Prof. Petra Bendel. Um Chancengleichheit und Integrationsbemühungen zu fördern, sieht der Koalitionsvertrag deutliche Verbesserungen vor. Viele der Vorschläge decken sich mit Positionen des Sachverständigenrats. So wird die Notwendigkeit umfassender Diversitäts-Strategien hervorgehoben, staatliche Institutionen sollen diversitätssensibler gestaltet und benachteiligte Schulkinder stärker unterstützt werden – zum Beispiel im Rahmen des Programms ‚Startchancen‘. Dies dürfte vielen Lernenden an Schulen in sozial schwieriger Lage zugutekommen. „Maßnahmen, die eine Stärkung der Regelsysteme vorsehen, sind besonders zu unterstützen, denn Integration ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und betrifft alle Bürgerinnen und Bürger“, so Bendel. Auch für Flüchtlinge sollen die Zugänge zu Sprachkursen und zum Arbeitsmarkt unabhängig von der Bleibeperspektive geöffnet werden. Hier hat sich die voraussichtlich nächste Bundesregierung im Austarieren von Integrationsförderung und Migrationssteuerung klar für die Integrationsförderung entschieden.
Wesentliche Reformen sind im Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts geplant: So soll die Einbürgerung in der Regel nach 5 Jahren (statt bisher 8) möglich sein, bei besonderen Integrationsleistungen nach 3 Jahren. Diese „Turboeinbürgerung“ fordert der SVR schon lange, wenn auch mit längeren Fristen. Die doppelte Staatsangehörigkeit wird grundsätzlich zugelassen, ein vom SVR vorgeschlagener Generationenschnitt soll geprüft werden. Um die Einbürgerungszahlen zu steigern, sind außerdem Einbürgerungskampagnen und festliche Zeremonien vorgesehen. „Wenn diese Vorschläge umgesetzt werden, dann zählt Deutschland bei der Einbürgerungspolitik künftig zur Avantgarde“, so Prof. Daniel Thym, stellvertretender SVR-Vorsitzender. Zusätzlich müssen auch die Kapazitäten bei den beteiligten Behörden in Ländern und Kommunen bereitgestellt und die Verfahren stärker digitalisiert werden. „Wenn die Behörden langsam arbeiten oder die neuen Optionen nicht genutzt werden, stellt sich andernfalls schnell Ernüchterung ein und der erhoffte Effekt auf die Einbürgerungsquoten bleibt aus“, erläutert Thym.
In Bezug auf die Erwerbsmigration setzen die Ampel-Parteien mit einer weiteren Öffnung den zuvor eingeschlagenen Weg fort und berücksichtigen damit, dass Deutschland dringend auf Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte angewiesen ist. „Für Fachkräfte mit Arbeitsvertrag gehört das deutsche Recht heute schon zu den liberalsten der Welt“, so Prof. Thym. Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz wurden Zuwanderungsoptionen für beruflich Qualifizierte schon deutlich ausgeweitet. Nun könnte durch eine „Chancenkarte“ mit Punktesystem auch die Einreise zur Jobsuche erleichtert werden. Wie bei der Einbürgerung gilt freilich auch hier, dass ein großzügiges Gesetzesrecht zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für eine erfolgreiche Zuwanderung in den Arbeitsmarkt ist. Dazu gehört ebenso, dass Deutschland als attraktiver Standort wahrgenommen wird. Hierfür sind auch das gesellschaftliche Klima sowie die Arbeits- und sonstigen Lebensbedingungen ausschlaggebend.
„Dass die Hürden bei der Anerkennung von ausländischen Bildungs- und Berufsabschlüssen gesenkt, Bürokratie abgebaut und Verfahren beschleunigt werden sollen, ist ein ganz entscheidender Faktor. Denn ohne anerkannte Qualifikationen ist die Zuwanderung nach Deutschland aus Erwerbsgründen immer noch sehr schwierig, daran ändert auch die Öffnung der Blauen Karte EU für nichtakademische Fachkräfte nichts“, so Thym weiter. Die vorgesehene Entfristung der Westbalkanregelung, die eine Zuwanderung auch ohne anerkannte Qualifikationen erlaubt, ist als länderspezifische Ausnahme konzipiert. Den Ansatz des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes, in dem grundlegend auf qualifizierte Zuwanderung gesetzt wird, stellen die Ampel-Parteien grundsätzlich nicht in Frage.
In punkto europäische Flüchtlingspolitik werden im Koalitionsvertrag wichtige Akzente gesetzt. So soll die Zurückweisung an den Außengrenzen beendet und die Seenotrettung im Mittelmeer unter regionalem Ansatz staatlich koordiniert werden. „Das fordert der SVR seit langem: Das Non-Refoulement-Prinzip sowie das Verbot der kollektiven Ausweisung an den europäischen Außengrenzen müssen wieder geachtet, Rechtsbrüche konsequenter verfolgt und sanktioniert werden“, so die SVR-Vorsitzende Bendel. Dafür ist inzwischen innerhalb der EU noch mehr Überzeugungsarbeit nötig, denn viele Mitgliedstaaten wollen die sogenannten Pushbacks an EU-Außengrenzen unter bestimmten Bedingungen legalisieren lassen, zum Beispiel bei staatlich organisierter Schleusung wie derzeit an der Grenze zu Belarus.
Die angestrebten Reformen des europäischen Asylsystems, vor allem die Vereinheitlichung von Standards und die faire Verteilung von Schutzsuchenden zwischen den Mitgliedsländern sind ein weiteres wichtiges, wenn auch im Koalitionsvertrag nur vage beschriebenes Vorhaben. Hier wird angesichts aktueller Entwicklungen viel Verhandlungsgeschick erforderlich sein. Den Vorschlag, Asylverfahren an Drittstaaten auszulagern, sieht der SVR aufgrund schwerwiegender rechtlicher, praktischer und politischer Fragen kritisch. Die Ankündigung, ein humanitäres Aufnahmeprogramm für Schutzsuchende aus Afghanistan aufzulegen und Resettlement-Kontingente zu erhöhen, ist dagegen zu begrüßen.
„Wir brauchen ein Paket an Maßnahmen, die ineinandergreifen: Eine nachhaltige Fluchtursachenbekämpfung, mehr reguläre Zuwanderungswege, etwa über einen Ausbau der Resettlement-Kontingente sowie ein sicheres, flüchtlingsrechtbasiertes Grenzregime. Die künftige Bundesregierung sollte konkrete Angaben zur Anzahl der Schutzsuchenden machen, die in den kommenden Jahren über Resettlement aufgenommen werden können. Die Bereitschaft zu helfen, ist auch in vielen Ländern und Kommunen da – jetzt muss dies in Programme umgesetzt werden“, erklärt Bendel.
Zu den zentralen Handlungsfeldern für die neue Legislaturperiode aus SVR-Sicht siehe auch: SVR-Agenda für eine nachhaltige Integrations- und Migrationspolitik. Impulse für die Legislaturperiode 2021 – 2025.
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Über den Sachverständigenrat
Der Sachverständigenrat für Integration und Migration ist ein unabhängiges und interdisziplinär besetztes Gremium der wissenschaftlichen Politikberatung. Mit seinen Gutachten soll das Gremium zur Urteilsbildung bei allen integrations- und migrationspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie der Öffentlichkeit beitragen. Dem SVR gehören neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Petra Bendel (Vorsitzende), Prof. Dr. Daniel Thym (Stellvertretender Vorsitzender), Prof. Dr. Viola B. Georgi, Prof. Dr. Marc Helbling, Prof. Dr. Birgit Leyendecker, Prof. Dr. Steffen Mau, Prof. Panu Poutvaara, Ph.D., Prof. Dr. Sieglinde Rosenberger und Prof. Dr. Hans Vorländer.
Weitere Informationen unter: www.svr-migration.de