Einwanderungsgesellschaft: Integration viel besser als ihr Ruf
Bevölkerung zufrieden mit Integration und Integrationspolitik. Soziale Spannungsfelder, Problemstau im Bildungsbereich und Reformbedarf in der Zuwanderungspolitik bleiben.
Berlin, 19. Mai 2010. Deutschland ist angekommen in der Einwanderungsgesellschaft. Dies zeigt das erste Jahresgutachten des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). Die Integration läuft im gesellschaftlichen Alltag weitgehend auf Erfolgskurs, vor allem im europäischen Vergleich. Nach dem SVR-Integrationsbarometer, einer repräsentativen Befragung von über 5.600 Personen, zeigt die Bevölkerung einen „pragmatischen Integrationsoptimismus“ und ein „belastbares gegenseitiges Grundvertrauen“, so der SVR-Vorsitzende Klaus J. Bade. Zuwanderer vertrauen den Deutschen zum Teil mehr als der eigenen Herkunftsgruppe und mitunter sogar mehr als die Deutschen sich selbst. Der mit dem Integrationsbarometer erstmals gemessene Integrationsklima-Index (IKI) registriert einen positiven Mittelwert: Auf einer Skala von 0 (sehr schlecht) bis 4 (sehr gut) liegt der IKI für das Jahr 2009 bei 2,77 (Mehrheitsbevölkerung) und sogar 2,93 (Zuwandererbevölkerung). Auch in der Politik ist Integration als zentrale gesellschaftspolitische Aufgabe akzeptiert.
Das Expertengremium sieht aber auch Problemzonen und mahnt Nachhol- und Reformbedarf auf politischen Baustellen an: Der Problemstau im Bildungsbereich bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund belastet den Arbeitsmarkt und kann den sozialen Frieden gefährden. Die Migrationsverhältnisse verschärfen den Fachkräftemangel am Arbeitsmarkt und den Reformdruck auf die Sozialsysteme. Die Sachverständigen fordern eine gezielte, auch nachholende Bildungs- und Qualifikationsoffensive, die Förderung qualifizierter und bedarfsorientierter Zuwanderung sowie eine selbstkritische Auseinandersetzung mit den Motiven der zunehmenden Abwanderung von Qualifizierten.
„Integration in Deutschland ist, trotz einiger Problemzonen, gesellschaftlich und politisch ein Erfolgsfall. Sie ist im internationalen Vergleich viel besser als ihr Ruf im Land.“ Dieses Fazit zog der Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), Prof. Dr. Klaus J. Bade, bei der Vorstellung des ersten Jahresgutachtens des Sachverständigenrats in Berlin. Die vom SVR präsentierten Einschätzungen und Ergebnisse widersprechen damit der in öffentlichen Debatten oft dominierenden Skandalisierung des Integrationsgeschehens unter dem Schreckbild einer „gescheiterten Integration“.
Basis dieser Einschätzung ist das Integrationsbarometer des Sachverständigenrats. Die repräsentative Befragung von über 5.600 Personen bezieht erstmals die Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund auch in ihrer wechselseitigen Wahrnehmung ein. „Das SVR-Integrationsbarometer signalisiert verhaltenen Integrationsoptimismus auf beiden Seiten der Einwanderungsgesellschaft, ein gemeinsames, pragmatisches Verhältnis zu Integrationsfragen und ein belastbares gegenseitiges Grundvertrauen“, fasste Bade zusammen. Zuwanderer vertrauen der Mehrheitsbevölkerung mitunter mehr als den eigenen oder anderen Herkunftsgruppen. Und sie vertrauen den Deutschen zum Teil sogar mehr als diese sich selbst. Die Zahl der Befürworter der Integrationspolitik der Bundesregierung (54% bei der Mehrheits- und knapp 50% bei der Zuwandererbevölkerung) übertrifft bei weitem die Zahl der Kritiker (9% bei der Mehrheits- und knapp 15% bei der Zuwandererbevölkerung).
Anlass zu vorsichtigem Optimismus gibt auch der im Rahmen des SVR-Integrationsbarometers erstmals errechnete Integrationsklima-Index (IKI): Er misst Erfahrungen und Einstellungen der Befragten für verschiedene Bereiche der Integration wie z.B. Arbeitsmarkt, Nachbarschaft oder Bildungssystem. Auf einer Skala von 0 (sehr schlecht) bis 4 (sehr gut) erreicht der IKI für das Jahr 2009 positive Mittelwerte von 2,77 für die Mehrheitsbevölkerung und sogar 2,93 für die Zuwandererbevölkerung.
Messbare Integration bedeutet für die Sachverständigen Anerkennung durch möglichst chancengleiche Teilhabe an den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Der Überblick über diese Bereiche zeigt ebenfalls beachtliche Integrationsfortschritte, vor allem im internationalen Vergleich. Ausnahmen bei einzelnen Gruppen und Bereichen bestätigen die Regel. So liegt die Arbeitslosigkeit bei Personen mit Migrationshintergrund in Deutschland zwar nach wie vor mehr als anderthalbmal so hoch wie bei der Mehrheitsbevölkerung. In anderen europäischen Einwanderungsländern, wie etwa in den Niederlanden und Schweden, ist für Zuwanderer das Risiko, arbeitslos zu werden, aber annähernd dreimal so hoch.
„Auch die Politik ist in der Einwanderungsgesellschaft angekommen und hat Integration endlich als gesellschaftspolitisches Thema ersten Ranges akzeptiert“, stellte der SVR-Vorsitzende im Hinblick auf die zunehmenden politischen Aktivitäten fest. Politik neige bei ihrer Selbstinszenierung aber mitunter dazu, Ursache und Folge zu verwechseln. Für das jahrzehntelange friedliche Zusammenwachsen der Einwanderungsgesellschaft sei Politik wenig richtungsweisend gewesen. Vielmehr habe sie sich zumeist verspätet und oft eher widerwillig der Entwicklung angepasst und erst in den letzten 10 Jahren kraftvoll von einem lange angstvoll-defensiven auf einen pro-aktiven Integrationskurs umgesteuert. Hinzu komme, dass das „Leuchtfeuer der Integrationspolitik“, der Nationale Integrationsplan, zwar in der Mehrheitsbevölkerung wichtige Anstöße, vor allem zur Vernetzung der entsprechenden Aktivitäten gegeben habe, aber, wie die Deutsche Islam Konferenz, in der Zuwandererbevölkerung zum überwiegenden Teil wenig oder auch gar nicht bekannt geworden sei.
Trotz erkennbar zunehmender Erfolge von Integration und Integrationspolitik warnt der SVR vor Euphorie; denn es gebe nach wie vor Problemzonen. Noch könne z.B. von gleichen Bildungschancen oder gar Bildungserfolgen und damit Lebenschancen von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund nicht die Rede sein. Bade sprach hier von einem „doppelten Integrationsparadox“:
In der Einwanderungsgesellschaft gebe es einen friedlichen und zunehmend pragmatischen Umgang mit Integration. Zugleich aber wachse an der Basis der Sozialpyramide bei zunehmender sozialer Polarisierung die Zahl perspektivloser sozialer Verlierer mit und ohne Migrationshintergrund. Die dort zunehmende aggressive Spannung könne den sozialen Frieden gefährden, während die unzureichende Qualifikation vieler Jugendlicher deren Erwerbschancen blockiere, das Arbeitskräfteangebot begrenze und den Sozialetat belaste. Nötig sei hier eine gezielte, auch nachholende Bildungs- und Qualifikationsoffensive, die auch die Vererbung der sozialen Startnachteile begrenze. „Bildungsinvestitionen sind nachhaltiger als Bankensubventionen“, pointierte Bade.
Aber genau hier ankere das zweite „Integrationsparadox“: Nach dem SVR-Integrationsbarometer befürworten bildungsorientierte Eltern aus Mehrheits- wie Zuwandererbevölkerung zwar durchweg Gleichberechtigung bei den Bildungschancen. Sie haben aber dennoch meist eine negative Einschätzung der Leistungsfähigkeit von Schulen mit ethnisch heterogener Schülerschaft und wollen deshalb für die eigenen Kinder nicht das ‚Risiko‘ ethnisch gemischter Schulklassen eingehen. Das gilt auch für Aufsteigerhaushalte mit Migrationshintergrund. Dieses Dilemma könne man, so die Experten, nur begrenzen, wenn sich durch innovatives Engagement, durch konzeptionelle, personelle und materielle Investitionen in heterogene Schulen deren Attraktivität erhöhe.
Der Sachverständigenrat sieht Nachhol- und Reformbedarf auch im Feld der Migrationspolitik: Deutschland sei heute Ein- und Auswanderungsland zugleich mit hoher innereuropäischer Mobilität. Im demographisch alternden Wohlfahrtsstaat aber verschärften abnehmende Zuwanderungen und zunehmende Abwanderungen von Menschen im besten Erwerbsalter nicht nur den Fachkräftemangel am Arbeitsmarkt, sondern auch den Reformdruck auf die Sozialsysteme. Deutschland brauche neben einer Bildungs- und Qualifikationsoffensive im Innern eine bedarfsorientierte Steuerung der Zuwanderung aus Ländern außerhalb der EU mithilfe eines am Arbeitsmarkt geerdeten Punktesystems. Attraktivität sei aber wichtiger als administrative Gestaltung, zumal innerhalb Europas Migration nicht mehr zu steuern sei. Deutschland müsse deshalb „attraktiver werden für Qualifizierte, die erwägen, abzuwandern und solche, die zögern, zuzuwandern“, sagte Bade. Darüber hinaus gebe es im humanitären Bereich von Flucht und Asyl in europäischer Arbeitsteilung große Herausforderungen an und vor den europäischen Grenzen, aber auch bei der Bekämpfung der Ursachen unfreiwilliger Wanderungen in deren Ausgangsräumen.
Vorstellung des Jahresgutachtens mit Integrationsbarometer 2010 des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration, 19. Mai 2010 in der Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Von links nach rechts die Sachverständigen: Prof. Dr. Christine Langenfeld, Prof. Dr. Yasemin Karakasoglu, Prof. Dr. Klaus. J. Bade, Vorsitzender, Prof. Dr. Ursula Neumann, Prof. Dr. Heinz Faßmann.
Foto© David Ausserhofer, Abdruck honorarfrei.
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Vorstellung des Jahresgutachtens mit Integrationsbarometer 2010
Das Jahresgutachten können Sie hier herunterladen:
Einwanderungsgesellschaft 2010. Jahresgutachten 2010 mit Integrationsbarometer
Die 15 Kernbotschaften des Jahresgutachtens
Zusammenfassung Integerationsbarometer
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Jahresgutachten
Integrationsbarometer
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Über den Sachverständigenrat
Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration geht auf eine Initiative der Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung zurück. Ihr gehören acht Stiftungen an. Neben der Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung sind dies: Bertelsmann Stiftung, Freudenberg Stiftung, Gemeinnützige Hertie-Stiftung, Körber-Stiftung, Vodafone Stiftung und ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius. Der Sachverständigenrat ist ein unabhängiges und gemeinnütziges Beobachtungs-, Bewertungs- und Beratungsgremium, das zu integrations- und migrationspolitischen Themen Stellung bezieht und handlungsorientierte Politikberatung anbietet. Die Ergebnisse seiner Arbeit werden in einem Jahresbericht veröffentlicht.
Dem SVR gehören neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Klaus J. Bade (Vorsitzender), Prof. Dr. Ursula Neumann (Stellv. Vorsitzende) sowie Prof. Dr. Michael Bommes, Prof. Dr. Heinz Faßmann, Prof. Dr. Yasemin Karakaşoğlu, Prof. Dr. Christine Langenfeld, Prof. Dr. Werner Schiffauer, Prof. Dr. Thomas Straubhaar und Prof. Dr. Steven Vertovec.