Presseinformation – Sachverständigenrat

SVR: Empfehlungen für eine nachhaltige Integrations- und Migrationspolitik

Anlässlich der nach den Sondierungsgesprächen anstehenden Koalitionsverhandlungen legt der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) eine Agenda für die neue Legislaturperiode vor. Die Gestaltung der vielfältigen Gesellschaft in Deutschland und die Stärkung des Zusammenhalts seien wichtige Prioritäten. Auch im Zuge der Corona-Pandemie sei deutlich geworden, dass eine chancengleiche Teilhabe noch nicht selbstverständlich sei. Außerdem müsse das Fachkräfteeinwanderungsgesetz nach dem Ende der Pandemie konsequent umgesetzt und eine weitere Verbesserung diskutiert werden. Um Migration zu steuern und Flüchtlingsschutz zu gewährleisten, seien Kooperationen auf europäischer und internationaler Ebene unabdingbar.

Berlin, 30. September 2021. „Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass Integrationsfortschritte ins Stocken geraten oder gar verloren gehen, wenn eine entsprechende Unterstützung nicht mehr geleistet werden kann. Hier besteht Nachholbedarf. Um den zu decken und Integration weiter zu fördern, muss die Bundesregierung neue Impulse setzen“, erklärt die SVR-Vorsitzende Prof. Petra Bendel. Damit Teilhabedefizite reduziert und der Zusammenhalt gestärkt werden könne, müssten vor allem solche Programme umgesetzt werden, die die Regelsysteme und Teilhabemöglichkeiten aller Bürgerinnen und Bürger in den Blick nehmen. „Denn Integration ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“, so Bendel. 

Wie Langzeitdaten zeigen, wird Zuwanderung von der Bevölkerung zunehmend als Bereicherung empfunden und Zugewanderten grundsätzlich das Recht auf Teilhabe zugesprochen. Die Realität sieht jedoch teilweise anders aus: Auf dem Arbeitsmarkt erzielen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte ein durchschnittlich niedrigeres Einkommen; ihre Kinder besuchen seltener eine höher qualifizierende Schule und verlassen diese häufiger ohne Abschluss. Hier gilt es nachzubessern. „Die neue Bundesregierung muss dafür sorgen, dass Bildungserfolge von sozialer Herkunft entkoppelt werden“, so Bendel. „Wir brauchen ein Soforthilfeprogramm, um die pandemiebedingten Rückstände vor allem von bildungsbenachteiligten Kindern und Jugendlichen rasch aufzuholen. Wir brauchen mehr Kita-Plätze und Schulen, die besser auf den Normalfall Vielfalt eingestellt sind. Ausgebaute Ganztagsschulen können hier eine zentrale Rolle spielen. Auch brauchen wir gerade für Neuzugewanderte mehr Unterstützung beim Übergang in die Berufsbildung und Arbeitswelt – zum Beispiel durch Lotsenprogramme.“

Für den Bereich politische Teilhabe gilt: Es braucht mehr Anreize zur Beteiligung. So können in der Regel nur diejenigen an Wahlen teilnehmen, die die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. „Aber nur wenige Zugewanderte, die berechtigt wären, lassen sich einbürgern“, sagt Prof. Daniel Thym, stellvertretender SVR-Vorsitzender. „Die Einbürgerung ist der Königsweg zu voller politischer Teilhabe. Deshalb empfiehlt der SVR, bestehende Initiativen auszubauen, mit deren Hilfe das Einbürgerungspotenzial besser ausgeschöpft werden kann“, so Thym. Außerdem plädiert der SVR dafür, das Staatsangehörigkeitsrecht zu optimieren und die nachzuweisende Mindestaufenthaltszeit bei Einbürgerung in Fällen einer besonders guten Integration auf vier Jahre zu verkürzen. „Es geht hier um Anreize für Zugewanderte mit Lebensmittelpunkt in Deutschland, die wirtschaftlich und sozial besonders gut integriert sind, sehr gut Deutsch sprechen und ein einwandfreies polizeiliches Führungszeugnis vorweisen – sie sollten von der ‚Turboeinbürgerung‘ profitieren“, so Thym. Um die politische Partizipation auch der hier lebenden Drittstaatsangehörigen ohne deutsche Staatsangehörigkeit zu verbessern, regt der SVR darüber hinaus an, das kommunale Wahlrecht für alle Ausländerinnen und Ausländer zu erwägen.

Deutschland ist auf Zuwanderung angewiesen: In der Wirtschaft fehlt es an Fachkräften, insbesondere an Auszubildenden. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass zugewanderte Arbeitskräfte vielerorts eine tragende Rolle spielen. Dies gilt auch für den Gesundheitssektor, wo ausländische Fachkräfte in Kliniken und Pflegeheimen unter erschwerten Bedingungen maßgeblich zur Aufrechterhaltung der Versorgungsleistungen beigetragen haben. „Deshalb muss das im März 2020 in Kraft getretene Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das aufgrund der pandemiebedingten Grenzschließungen und Reiseeinschränkungen bislang nicht vollumfänglich wirken konnte, nun mit Leben gefüllt werden“, fordert Thym. „Wir brauchen zudem eine weitere Vereinfachung von Anerkennungsverfahren, die Ausweitung der Regelungen auf zusätzliche Branchen und Personen sowie eine aktive Bewerbung des Standorts Deutschland auch durch die Politik.“

In der Flüchtlings- und Migrationspolitik muss die künftige Bundesregierung dem SVR zufolge ebenfalls etliche Herausforderungen meistern. Aufgrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie ist die Zahl der Asylanträge in Deutschland und der EU seit März 2020 gesunken; Resettlement-Kontingente wurden nicht ausgeschöpft; Rückführungen waren zum Teil nicht möglich. „Schon vor der Pandemie wurde Schutzsuchenden der Zugang zu Asyl zunehmend erschwert; die Verantwortungsübernahme für Flüchtlinge war und bleibt innerhalb der EU sowie weltweit ungleich verteilt. Dabei zeigen globale Entwicklungen, die zunehmend Migrationsbewegungen auslösen – darunter die jüngste Eskalation in Afghanistan oder der Anstieg klimabedingter Naturkatastrophen –, wie wichtig die europäische und internationale Zusammenarbeit für die Gestaltung einer nachhaltigen Migrations- und Flüchtlingspolitik ist“, so die SVR-Vorsitzende Prof. Bendel.

„Deutschland kann Migration nicht alleine steuern, sondern ist auf Partner angewiesen – in Europa sowie in den Herkunfts-, Erstaufnahme- und Transitstaaten. Angesichts der andauernden Blockade innerhalb der EU sollte die neue Bundesregierung bei partnerschaftlich gestalteten Kooperationen vorangehen. Der Fokus auf Grenzkontrollen und Rückführung muss dabei ausbalanciert, der Flüchtlingsschutz oben angestellt und reguläre Zugangswege müssen geöffnet werden. Es gilt, Schutzsuchende solidarisch zu verteilen sowie schnelle und faire Verfahren überall in der Europäischen Union zu gewährleisten“, fordert Bendel.

Daher müssten weitere, kurzfristig aktivierbare Instrumente zum Einsatz kommen, darunter insbesondere humanitäre Aufnahmeprogramme, die in Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen umgesetzt werden und dadurch ein großes Maß an Sicherheit und Planbarkeit aufweisen. Neben Programmen von Bund und Ländern unter Beteiligung von Kommunen sei eine deutliche Ausweitung des EU-Resettlement-Programms erforderlich. Ebenso zentral sei die Unterstützung und Entlastung von Erstaufnahmeländern, die oft über Jahre bis Jahrzehnte Flüchtlingen Schutz gewähren. Wenn dort die Lebensbedingungen für Flüchtlinge prekär sind und Zukunftsperspektiven oder Rückkehroptionen fehlen, kann es andernfalls mittel- und langfristig zu erhöhten Wanderungsbewegungen kommen.

Die SVR-Agenda für eine nachhaltige Integrations- und Migrationspolitik können Sie unter diesem Link einsehen.

Folgen Sie diesem Link, um die Presseinformation herunterzuladen.

Ihre Ansprechpartnerin für Medienanfragen
Meike Giordono-Scholz

Kommunikation SVR gGmbH
Mobiltelefon: 0170 635 7164
E-Mail: email hidden; JavaScript is required

Über den Sachverständigenrat

Der Sachverständigenrat für Integration und Migration ist ein unabhängiges und interdisziplinär besetztes Gremium der wissenschaftlichen Politikberatung. Mit seinen Gutachten soll das Gremium zur Urteilsbildung bei allen integrations- und migrationspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie der Öffentlichkeit beitragen. Dem SVR gehören neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Petra Bendel (Vorsitzende), Prof. Dr. Daniel Thym (Stellvertretender Vorsitzender), Prof. Dr. Viola B. Georgi, Prof. Dr. Marc Helbling, Prof. Dr. Birgit Leyendecker, Prof. Dr. Steffen Mau, Prof. Panu Poutvaara, Ph.D., Prof. Dr. Sieglinde Rosenberger und Prof. Dr. Hans Vorländer.

Weitere Informationen unter: www.svr-migration.de