Pressemitteilung Sachverständigenrat

SVR: Programme zirkulärer Migration bieten Chance zu Verknüpfung von Migrations- und Entwicklungspolitik

Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) legt Studie zu Chancen und Grenzen zirkulärer Migrationsprogramme vor. Internationale Fachtagung des SVR erörtert Zukunftsperspektiven wiederholter, temporärer Migration. SVR empfiehlt zur Erprobung Pilotprojekte.

Berlin, den 21. September 2011. Programme zirkulärer Migration sind eine Chance, Migrations- und Entwicklungspolitik besser miteinander zu verbinden. Zirkuläre Migrationsprogramme können, wenn sie durch Entwicklungszusammenarbeit flankiert werden, spürbare entwicklungspolitische Effekte haben. Dazu müssen aber verschiedene Bedingungen erfüllt sein. Zu diesem Ergebnis kommt eine SVR-Studie, die zur heutigen Internationalen Fachtagung des SVR zu zirkulären Migrationsprogrammen vorgelegt worden ist. „Zirkuläre Migrationsprogramme können zu einer entwicklungsorientierten Migrationspolitik beitragen“, sagte der SVR-Vorsitzende Prof. Dr. Klaus J. Bade. „Aber wir müssen Chancen und Grenzen näher ausloten“. Auf die Chancen zirkulärer Migrationsprogramme wies im Eröffnungsvortrag zur Konferenz auch Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, hin.

Die SVR-Studie analysiert, unter welchen Voraussetzungen positive wirtschaftliche Effekte für die Herkunftsländer erzielt werden können und welche Vorteile zirkuläre Migration für das Aufnahmeland und für die Migranten selbst bietet. Zirkuläre Migrationsprogramme bedeuten, dass Menschen aus Entwicklungs- und Schwellenländern befristet und mehrfach in einem Staat der Europäischen Union einreisen und arbeiten können und dann mit den erworbenen Kenntnissen, Qualifikationen und Ersparnissen wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren.

Ein Beispiel: Ein vietnamesischer Kfz-Mechaniker erwirbt bei seinen mehrfachen bis zu jeweils zweijährigen Aufenthalten in Deutschland berufsspezifische Fähigkeiten und Kenntnisse und erarbeitet das notwendige Kapital, um nach seiner endgültigen Rückkehr in seinem Heimatland eine Kfz-Werkstatt zu gründen. Für die Herkunftsländer ergeben sich Vorteile: Sie verlieren Arbeitskräfte nicht auf Dauer (Braindrain); es entstehen neue wirtschaftliche Verbindungen zwischen Herkunfts- und Zielland. Zudem profitieren die Herkunftsländer von den Rücküberweisungen der Migranten. Für die Aufnahmeländer sind zirkuläre Migrationsprogramme eine Chance, ihre Zuwanderungssteuerung zu verbessern. Die irreguläre Migration, die mit hohen Risiken für die Zuwanderer verbunden ist, kann begrenzt werden. Für den individuellen Migranten eröffnen die Programme neue Perspektiven für die Umsetzung von Migrationsvorhaben. Aber der SVR warnt vor einer Überschätzung der erhofften Triple-Win-Relation, also eines Gewinns für alle drei Beteiligten (Herkunftsland, Aufnahmeland, Migranten). Dieser Gewinn fällt nach Einschätzung des SVR ungleich und insgesamt eher moderat aus. Am größten ist der Gewinn aus entwicklungspolitischer Sicht, wie die SVR-Studie, die von der Robert Bosch Stiftung gefördert worden ist, dokumentiert. Im Rahmen dieser Studie wurde eine Szenariorechnung zu den Entwicklungseffekten der Programme im Herkunftsland in Auftrag gegeben. Sie wurde vom Overseas Development Institute (ODI) durchgeführt. Als Fallbeispiele wurden Vietnam, Ghana und Sierra Leone gewählt. Für Ghana ergibt die Simulation – unter der Annahme, dass 15.000 Personen an einem zirkulären Migrationsprogramm teilnehmen und einer Produktivitätssteigerung von 0,05 Prozent – einen Anstieg des Bruttosozialprodukts pro Kopf um 3,0 Prozent. Dies würde die Armutsquote von 30 Prozent (Stand 2006) um immerhin 1,3 Prozentpunkte verringern. Für 87.360 Ghanaer würde dies einen Weg aus der Armut bedeuten.

Nach der SVR-Studie sind entwicklungspolitische Effekte am größten, wenn folgende Voraussetzungen gegeben sind: eine wirtschaftliche Dynamik im Herkunftsland, eine Produktivitätssteigerung durch ein verbessertes Qualifikationsniveau der Rückkehrer und eine Zunahme von wirtschaftlichen Verflechtungen und Investitionen. Notwendig sind zudem rechtsstaatliche Strukturen und möglichst wenig Korruption in den Herkunftsländern.

Um signifikante wirtschaftliche Effekte in den Herkunftsländern zu erzielen, muss außerdem ein ausreichend großer Bevölkerungsanteil an einem zirkulären Migrationsprogramm teilnehmen können. Damit dies sichergestellt werden kann, ist eine Kooperation mehrerer europäischer Länder bei einem solchen Programm sinnvoll, z.B. im Rahmen von Mobilitätspartnerschaften. Bei diesen Vereinbarungen zwischen EU, interessierten Mitgliedstaaten und ausgewählten Drittstaaten werden Fragen von Migration, Arbeitsmarkt und Entwicklungspolitik geregelt.

Zudem treten entwicklungspolitische Effekte erst ab einem bestimmten Qualifikationsniveau der Migranten auf. Zwar verspricht die zirkuläre Wanderung von Hochqualifizierten eine besonders hohe Wirkung; doch stehen dieser Gruppe – auch international – attraktivere Optionen einer dauerhaften Zuwanderung offen. Ihr Interesse an zirkulärer Migration dürfte daher gering sein. „Als Zielgruppe für zirkuläre Migrationsprogramme empfiehlt der SVR vor allem Mittelqualifizierte, also Arbeitskräfte mit einer beruflichen Ausbildung“, erläuterte Prof. Dr. Heinz Faßmann, Mitglied des Sachverständigenrats.

In der SVR-Studie wird auch erstmals das arbeitsmarktpolitische Potenzial zirkulärer Migrationsprogramme für Deutschland untersucht. Es fällt bescheidener aus als angenommen. Zirkuläre Migrationsprogramme erscheinen kaum geeignet, den strukturellen Bedarf an Hoch- und Höchstqualifizierten zu decken, weil dafür in erster Linie Zuwanderer mit einem dauerhaften Aufenthalt in Frage kommen. Das bestätigten auch zehn Interviews mit deutschen Arbeitgebern und Arbeitgeberverbänden, die die SVRGeschäftsstelle durchgeführt hat. Mittelfristig besteht vonseiten der Arbeitgeber Interesse, neue Partnerländer in saisonale Arbeitskräfteprogramme einzubeziehen, vor allem in der Landwirtschaft oder im Gast- und Hotelgewerbe.

Darüber hinaus ergeben sich aus demografisch bedingtem Fachkräftemangel auch Bedarfe im mittelqualifizierten Segment. Arbeitsmarktpolitische und entwicklungspolitische Interessen sind also nicht zwingend deckungsgleich.

„Programme zirkulärer Migration sind kein Allheilmittel. Sie bieten aber ein hohes entwicklungspolitisches Potenzial, das genutzt werden sollte“, sagte Faßmann. Der SVR empfiehlt, Programme zirkulärer Migration im Rahmen von Pilotprojekten zu erproben und zu evaluieren. Aus Sicht des SVR bietet sich ein Programm im mittelqualifizierten Sektor an, etwa im Gesundheitsbereich, im Tourismus, in der Metall verarbeitenden Industrie und im Kfz-Sektor. Als Partnerländer kommen u.a. die Maghreb-Staaten und Ägypten oder die GUS-Nachfolgestaaten in Frage. An dem Pilotprogramm könnten zwischen 500 und 1.000 Personen teilnehmen. Jeder ununterbrochene, einzelne Aufenthalt sollte nicht mehr als zwei Jahre betragen. Darüber hinaus sollten auch allgemeine Anreize zu zirkulärer Migration geschaffen werden. Eine Kombination aus Programmen zirkulärer Migration und allgemeinen Erleichterungen einer Zirkularität, gekoppelt mit einer grundsätzlich erleichterten Zuwanderung nach Deutschland wäre aus Sicht des SVR ein substanzieller Beitrag zu einer Verbesserung der deutschen Migrations- und Entwicklungspolitik.

Die Studie „Triple-Win oder Nullsummenspiel? Chancen, Grenzen und Zukunftsperspektiven für Programme zirkulärer Migration im deutschen Kontext“ finden Sie hier zum Download. Dort finden Sie auch eine weitere SVR-Studie: „Gute Grundlagen: Das deutsche Aufenthaltsrecht und Möglichkeiten der Umsetzung von Programmen zirkulärer Migration“.

Die Pressemitteilung können Sie hier herunterladen:
pm-zirkulare-migrationsprogramme

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Dorothee Winden, Kommunikation
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Über den Sachverständigenrat
Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration geht auf eine Initiative der Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung zurück. Ihr gehören acht Stiftungen an. Neben der Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung sind dies: Bertelsmann Stiftung, Freudenberg Stiftung, Gemeinnützige Hertie-Stiftung, Körber-Stiftung, Vodafone Stiftung und ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius. Der Sachverständigenrat ist ein unabhängiges und gemeinnütziges Beobachtungs-, Bewertungs- und Beratungsgremium, das zu integrations- und migrationspolitischen Themen Stellung bezieht und handlungsorientierte Politikberatung anbietet. Die Ergebnisse seiner Arbeit werden in einem Jahresbericht veröffentlicht.

Dem SVR gehören neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Klaus J. Bade (Vorsitzender), Prof. Dr. Ursula Neumann (Stellv. Vorsitzende) sowie Prof. Dr. Gianni D’Amato, Prof. Dr. Thomas K. Bauer, Prof. Dr. Heinz Faßmann, Prof. Dr. Yasemin Karakasoğlu, Prof. Dr. Christine Langenfeld, Prof. Dr. Ludger Pries, Prof. Dr. Werner Schiffauer.