Presseinformation – Wissenschaftlicher Stab

Selektive Solidarität: Wovon Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtlingen abhängt

Die Bereitschaft, Flüchtlinge in Deutschland zu unterstützen, ist grundsätzlich groß. Manche Flüchtlinge erfahren jedoch mehr Solidarität als andere, auch wenn die Unterschiede insgesamt betrachtet eher gering ausfallen. Merkmale wie Herkunft, Geschlecht, Religion oder Bildungsniveau der Flüchtlinge sind bedeutsam für das Maß an Hilfsbereitschaft, das ihnen die Bevölkerung entgegenbringt. Auch die politische Orientierung der Befragten und ihr Vertrauen in Institutionen wirkt sich auf ihre Aufnahmebereitschaft aus.

Berlin, 5. Juli 2023. Eine im Frühjahr durchgeführte Befragung im Rahmen eines Forschungsprojekts des wissenschaftlichen Stabs des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR) zeigt, dass die Bevölkerung in Deutschland ganz überwiegend solidarisch mit Flüchtlingen ist und ihnen gegenüber dementsprechend hilfsbereit. Drei von vier der über 4.000 Befragten würden spenden; zwei Drittel würden Flüchtlinge zu Behörden begleiten; knapp ein Drittel würde Flüchtlinge zuhause aufnehmen. Allerdings erfahren nicht alle das gleiche Maß an Solidarität und Hilfsbereitschaft: „Es gibt im Hinblick auf unterschiedliche Flüchtlingsgruppen durchaus ein gewisses Ranking“, berichtet Dr. Nora Storz, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim SVR. „So hat das Herkunftsland eines Flüchtlings Einfluss auf die Solidarität der Aufnahmebevölkerung. Flüchtlingen aus der Ukraine würde mehr Solidarität entgegengebracht als solchen aus Syrien oder Nigeria. Diese Bevorzugung zeigt sich etwa in der höheren Bereitschaft der Befragten, ukrainische Flüchtlinge bei Behördengängen zu begleiten oder sie zeitweise zuhause aufzunehmen“, so Dr. Storz.

Neben dem Herkunftsland können weitere Eigenschaften der Flüchtlinge Einfluss auf die Solidarität der Aufnahmebevölkerung haben, darunter das Geschlecht, die Religionszugehörigkeit, das Bildungsniveau und die zu erwartende Aufenthaltsdauer in Deutschland. „Die Befragungsergebnisse lassen erkennen, dass christlichen, weiblichen und gut ausgebildeten Flüchtlingen eher geholfen würde als muslimischen, männlichen und gering gebildeten. Auch wird Flüchtlingen, wenn sie zurückkehren wollen, mehr Hilfsbereitschaft entgegengebracht, als wenn sie eine Bleibeabsicht haben“, erläutert Dr. Storz weiter.

Im Rahmen der Online-Befragung wurden den Teilnehmenden sog. Vignetten – also Kurz-Profile von Geflüchteten – vorgelegt, die sich in verschiedenen Aspekten wie dem Herkunftsland unterschieden. Die Auswertung ergab, dass nicht nur die Eigenschaften der Flüchtlinge, sondern auch die der Befragten eine große Rolle für ihr Antwortverhalten spielen. Als besonders relevant für die Hilfs- und Aufnahmebereitschaft haben sich die politische Einstellung, das Gefühl politischer Selbstwirksamkeit sowie das Vertrauen in Institutionen erwiesen. „Politisch links oder eher links eingestellte Befragte sind gegenüber allen drei Herkunftsgruppen der Flüchtlinge hilfsbereit, während politisch in der Mitte, eher rechts oder rechts stehende Befragte eine insgesamt niedrigere Hilfsbereitschaft aufweisen und zwischen ukrainischen Flüchtlingen auf der einen und Flüchtlingen aus Syrien oder Nigeria auf der anderen Seite unterscheiden“, fasst Dr. Nora Storz die bisherigen Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt zusammen.

Der Anstieg der Flüchtlingszahlen ist für viele Kommunen eine Herausforderung. Derzeit sind gut eine Million Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine in Deutschland registriert, gleichzeitig kommen wieder mehr Schutzsuchende aus weiteren Ländern. Vor diesem Hintergrund erläutert Dr. Jan Schneider, Leiter des Bereichs Forschung beim SVR: „Angesichts der dauerhaft hohen Zahl von Schutzsuchenden gilt es, politische Vorhaben vor Ort frühzeitig zu erklären und unter breiter Beteiligung der Bevölkerung zu diskutieren. Denn Menschen, die sich von der Politik ‚mitgenommen‘ fühlen, zeigen sich solidarischer – und sie haben auch häufig mehr Vertrauen in staatliche Institutionen und Verwaltung.“ So würden Befragte mit „sehr großem“ oder „eher großem“ Vertrauen in Bundesregierung und Justiz häufiger in einer Hilfsorganisation tätig werden, um Flüchtlingen zu helfen, als diejenigen, die „überhaupt kein“ oder „eher weniger“ Vertrauen haben. Befragte mit großem oder sehr großem Vertrauen in die Stadt- und Gemeindeverwaltung befürworten häufiger, dass Flüchtlinge einen dauerhaften Schutzstatus erhalten sollten als diejenigen, die weniger Vertrauen in diese Institutionen haben.

Der vorliegende Policy Brief ist die erste von zwei geplanten Publikationen aus dem SVR-Forschungsprojekt „Solidarität in der Aufnahmegesellschaft: Wahrnehmung Geflüchteter und Determinanten für Engagement und Hilfsbereitschaft“, das von der Stiftung Mercator gefördert wird. „Stereotype können Solidarität hemmen oder sogar zu Diskriminierung führen“, sagt Katja Lenz, Projektmanagerin der Stiftung Mercator. „Im Rahmen dieses Forschungsprojekts soll deshalb untersucht werden, welche Faktoren zu einer Ungleichbehandlung führen können und wie Solidarität gegenüber Schutzbedürftigen unabhängig von ihrer Herkunft oder Religion, ihrem Geschlecht oder Bildungsstand gefördert werden kann.“

Der wissenschaftliche Stab des SVR hat im Frühjahr 2023 Daten zur Flüchtlingssolidarität in Deutschland erhoben. Dabei handelte es sich um die erste Welle einer Mehrfacherhebung, für die bundesweit 4.021 Personen in einer Online-Befragung zu ihren Einstellungen gegenüber verschiedenen Gruppen von Flüchtlingen sowie zu ihrer Solidaritätsbereitschaft und ihrer tatsächlich geleisteten Unterstützung für Flüchtlinge befragt wurden. Der Teilnehmendenpool des Panels ist telefonisch rekrutiert. Die Auswahl der Stichprobe basiert auf einem Zufallsverfahren. Bei der Ziehung wurden Merkmale wie Geschlecht, Alter, Bildung und Wohnregion der Panellisten berücksichtigt. Die Erhebung wird vom Umfrageinstitut forsa durchgeführt.

Der Policy Brief „Selektive Solidarität? Wovon Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtlingen abhängt“ kann hier heruntergeladen werden.

Die Presseinformation steht unter diesem Link zum Download zur Verfügung.

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Über den Sachverständigenrat

Der Sachverständigenrat für Integration und Migration ist ein unabhängiges und interdisziplinär besetztes Gremium der wissenschaftlichen Politikberatung. Mit seinen Gutachten soll das Gremium zur Urteilsbildung bei allen integrations- und migrationspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie der Öffentlichkeit beitragen. Dem SVR gehören neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Hans Vorländer (Vorsitzender), Prof. Dr. Birgit Leyendecker (Stellvertretende Vorsitzende), Prof. Dr. Havva Engin, Prof. Dr. Birgit Glorius, Prof. Dr. Marc Helbling, Prof. Dr. Winfried Kluth, Prof. Dr. Steffen Mau, Prof. Panu Poutvaara, Ph.D., Prof. Dr. Sieglinde Rosenberger.

Der wissenschaftliche Stab unterstützt den Sachverständigenrat bei der Erfüllung seiner Aufgaben und betreibt darüber hinaus eigenständige, anwendungsorientierte Forschung im Bereich Integration und Migration. Dabei folgt er unterschiedlichen disziplinären und methodischen Ansätzen. Die Forschungsergebnisse werden u. a. in Form von Studien, Expertisen und Policy Briefs veröffentlicht.

Weitere Informationen unter: www.svr-migration.de