Presseinformation – Wissenschaftlicher Stab

Ohne Pass, ohne Rechte? Staatenlosigkeit in Deutschland

Eine wachsende Zahl von Menschen in Deutschland ist staatenlos oder verfügt nicht über eine geklärte Staatsangehörigkeit. Ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist dadurch zum Teil stark beeinträchtigt. Welche Herausforderungen sich dadurch ergeben, untersucht der wissenschaftliche Stab des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR) im Rahmen eines Forschungsprojekts. Ziel ist, das Bewusstsein für das Thema Staatenlosigkeit zu schärfen und Handlungsempfehlungen für einen besseren Umgang mit dem Phänomen in Politik und Verwaltung zu entwickeln.

Berlin, 31. März 2023. Im Jahr 2022 waren in Deutschland rund 29.500 Personen ohne und etwa 97.000 Personen mit einer ungeklärten Staatsangehörigkeit im Ausländerzentralregister erfasst – Tendenz steigend. Dies hängt damit zusammen, dass zum einen Personen, die schon als Staatenlose in anderen Ländern gelebt haben, nach Deutschland gekommen sind (z. B. kurdische und palästinensische Volkszugehörige, die zuvor in Syrien oder im Libanon gelebt haben). Zum anderen haben auch sonstige Geflüchtete zum Teil Schwierigkeiten beim Nachweis ihrer Staatsangehörigkeit oder Identität.

Die Registrierten sind auffällig jung. Das Durchschnittsalter der Staatenlosen liegt bei Mitte 30, das Alter derjenigen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit bei Mitte 20. „In Deutschland wird die Staatsangehörigkeit in der Regel vererbt. Das gilt auch, wenn keine Staatsangehörigkeit vorhanden oder diese ungeklärt ist. Dieser Status wird dann von den Eltern an ihre in Deutschland geborenen Kinder weitergegeben“, erläutert Maximilian Müller, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim SVR. Den Daten zufolge wurden rund 16 Prozent der anerkannten Staatenlosen in Deutschland geboren; bei denjenigen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit ist es sogar ein Drittel.

Dabei ist die Staatsangehörigkeitsfrage von zentraler Bedeutung. Ohne bzw. ohne geklärte Staatsangehörigkeit werden alltägliche Handlungen oft problematisch: Viele Betroffene können nicht reisen, kein Bankkonto eröffnen, keine Wohnung mieten. Auch für behördliche Vorgänge müssen sie oft ihre Staatsangehörigkeit nachweisen. Im Asylverfahren oder bei der Einbürgerung besteht etwa eine Mitwirkungspflicht, wenn es um die Klärung der eigenen Identität geht. „Diese Klärung kann schwierig sein: Manche Herkunftsländer kooperieren nicht mit Einzelpersonen, in anderen gibt es keinen entsprechenden Verwaltungsapparat, Unterlagen wurden durch Krieg oder Naturkatastrophen zerstört oder bewusst zurückgelassen. Handelt es sich um politisch Verfolgte, kann es auch zu paradoxen Situationen kommen. Trotz Mitwirkungspflicht bei der Klärung ihrer Identität kann von ihnen nicht verlangt werden, dass sie an den Verfolgerstaat herantreten. Der Kontakt zu den dortigen Behörden ist ihnen nach unserer Rechtslage sogar verboten“, so Maximilian Müller.

Dass Staatenlosigkeit reduziert werden sollte, ist grundsätzlich internationaler Konsens. Bei der Umsetzung gibt es allerdings Nachholbedarf. Zwar ist die Rechtsstellung von Staatenlosen im Rahmen von völkerrechtlichen Abkommen, die auch Deutschland ratifiziert hat, geregelt. Ein einheitliches und gesetzlich geregeltes Anerkennungs- oder Feststellungsverfahren gibt es in Deutschland – anders als bei Asylverfahren – aber nicht. Vielmehr kann sich das Vorgehen je nach Bundesland und sogar je nach Behörde unterscheiden. Menschen ohne Nachweis einer Staatsangehörigkeit, deren Staatenlosigkeit (noch) nicht anerkannt wurde, werden von den Behörden häufig als Personen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit eingestuft. Dies ist vor allem der Fall, wenn es Anhaltspunkte gibt, dass eine Person zwar eine Staatsangehörigkeit besitzt, ein hinreichend sicherer Nachweis aber fehlt. Dabei handelt es sich jedoch lediglich um einen Arbeits- und nicht um einen Rechtsbegriff, aus dem sich Rechtsfolgen ergäben.

Für die Wahrnehmung von Rechten und eine angemessene Teilhabe ist in der Regel der Aufenthaltstitel entscheidend. Allerdings haben viele Staatenlose bzw. Personen ohne geklärte Staatsangehörigkeit nur einen befristeten oder gar keinen Aufenthaltstitel – bei Personen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit besitzt fast ein Drittel keinen und jeder zweite nur einen befristeten Aufenthaltstitel.

„Das Thema spielt spätestens seit der Fluchtzuwanderung ab 2014 eine immer größere Rolle, findet in der öffentlichen Debatte aber kaum Beachtung“, sagt Dr. Jan Schneider, Leiter des Bereichs Forschung beim SVR. Im Zuge der anstehenden Reform des Staatsangehörigkeitsrechts sollte die Problematik von Staatenlosigkeit und ungeklärter Staatsangehörigkeit daher bedacht werden. „Es gibt hier durchaus ein Spannungsfeld, denn es müssen auch sicherheitsrelevante Aspekte berücksichtigt und Fehlanreize vermieden werden. Aber es geht auch um die Frage, wie die bislang nicht einheitlich geregelte Verwaltungspraxis zur Feststellung von Staatenlosigkeit effizienter gestaltet werden kann. Auch sollte geprüft werden, ob der Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit für die in Deutschland geborenen Nachkommen von Staatenlosen bzw. von Personen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit vereinfacht werden kann – sonst könnte diese Bevölkerungsgruppe weiter anwachsen“, so Dr. Schneider.

Das Projekt „Staatenlosigkeit in Deutschland: Umfang, Soziodemographie und administrative Verfahren“ wird von der Robert Bosch Stiftung gefördert. „Bislang wissen wir zu wenig über die wachsende Gruppe von Staatenlosen und Menschen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit. Das muss sich ändern“, so Dr. Raphaela Schweiger, Leiterin des Migrationsprogramms der Robert Bosch Stiftung. „Auf Basis einer wissenschaftlichen Untersuchung und eines Einblicks in die Verwaltungsverfahren wollen wir gemeinsam mit dem SVR Handlungsoptionen für politische Entscheidungstragende identifizieren und eine Debatte anregen. Denn wir brauchen ein größeres Bewusstsein für dieses Thema, um konkrete Lösungen für die Betroffenen zu entwickeln.“

Der Policy Brief „Ein Leben ohne Pass. Die Situation staatenloser Menschen in Deutschland“ kann hier heruntergeladen werden.

Die Presseinformation steht unter diesem Link zum Download zur Verfügung.

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Über den Sachverständigenrat
Der Sachverständigenrat für Integration und Migration ist ein unabhängiges und interdisziplinär besetztes Gremium der wissenschaftlichen Politikberatung. Mit seinen Gutachten soll das Gremium zur Urteilsbildung bei allen integrations- und migrationspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie der Öffentlichkeit beitragen. Dem SVR gehören neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Hans Vorländer (Vorsitzender), Prof. Dr. Birgit Leyendecker (Stellvertretende Vorsitzende), Prof. Dr. Havva Engin, Prof. Dr. Birgit Glorius, Prof. Dr. Marc Helbling, Prof. Dr. Winfried Kluth, Prof. Dr. Steffen Mau, Prof. Panu Poutvaara, Ph.D., Prof. Dr. Sieglinde Rosenberger.

Der wissenschaftliche Stab unterstützt den Sachverständigenrat bei der Erfüllung seiner Aufgaben und betreibt darüber hinaus eigenständige, anwendungsorientierte Forschung im Bereich Integration und Migration. Dabei folgt er unterschiedlichen disziplinären und methodischen Ansätzen. Die Forschungsergebnisse werden u. a. in Form von Studien, Expertisen und Policy Briefs veröffentlicht.

Weitere Informationen unter: www.svr-migration.de