Strategie für Verbleib, Rückkehr und zirkuläre Mobilität von ukrainischen Flüchtlingen in der EU nötig
Der von der Europäischen Union kollektiv erteilte vorübergehende Schutz für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine gilt als einzigartig in Bezug auf die gemeinsame Verantwortungsteilung in der EU. Im März 2025 läuft dieser Schutz jedoch aus. Im Rahmen einer Studie hat der wissenschaftliche Stab des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR) untersucht, welche Optionen es für einen gesicherten Aufenthalt gibt, und wie es durch geförderte Rückkehr oder zirkuläre Mobilität gelingen kann, auch die berechtigten Interessen der Ukraine und der Kriegsflüchtlinge selbst zu berücksichtigen.
Berlin, 11. Januar 2024. „Der vorübergehende Schutz für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine endet am 4. März 2025. Angesichts der bald endenden Legislaturperiode des Europäischen Parlaments drängt nun die Zeit: Es braucht tragfähige Nachfolgelösungen, sonst stehen in gut einem Jahr vielleicht mehrere Millionen Menschen in Europa ohne Aufenthaltstitel da“, sagt Dr. Jan Schneider, Leiter des Bereichs Forschung beim SVR. Dies wäre problematisch, wenn aufgrund fortgesetzter Kriegshandlungen auf dem Territorium der Ukraine eine Rückkehr für große Teile der geflohenen Bevölkerung nicht möglich ist. Im Rahmen einer Studie hat der wissenschaftliche Stab des SVR daher diverse aufenthaltsrechtliche Optionen geprüft, die auf europäischer und nationaler Ebene genutzt werden könnten.
Deutschland und die anderen europäischen Aufnahmestaaten stehen dabei vor einem Dilemma: Sie haben in die Integration der ukrainischen Kriegsflüchtlinge investiert und zum Teil bereits gute Erfolge erzielt. Deshalb sind sie daran interessiert, dass diejenigen, die im Arbeitsmarkt und im Ausbildungssystem angekommen sind, eine Bleibeoption erhalten. Gleichzeitig müssen sie das berechtigte Anliegen der Ukraine nach einer Rückkehr ihrer Bevölkerung berücksichtigen. Die EU unterstützt die Ukraine bereits mit massiven Investitionen für den Wiederaufbau, für den dringend Arbeitskräfte benötigt werden; eine Rückkehrmobilität liegt also auch in ihrem Interesse.
Vor allem gut ausgebildete Frauen und ihre minderjährigen Kinder haben seit Kriegsbeginn in der EU Schutz gesucht. Sie lernen die Sprache ihres Aufnahmelandes, gehen zur Schule oder haben eine Erwerbstätigkeit aufgenommen. „Mit zunehmender Kriegsdauer haben sich die Rückkehrabsichten vieler Geflüchteter verändert. Vor allem Flüchtlinge mit qualifizierter Berufsausbildung, die schnell am Arbeitsmarkt Fuß fassen und sich selbst versorgen, können sich einen Verbleib im Aufnahmeland inzwischen eher vorstellen. Genau diese Personen wären vermutlich aber auch Stützen des Wiederaufbaus, die aus der Perspektive der Ukraine unbedingt zur Rückkehr motiviert werden sollten. Es birgt erhebliches Potenzial für politische Konflikte, wenn die europäischen Aufnahmestaaten erwerbstätigen Geflüchteten den roten Teppich ausrollen, während Personen, die nicht zu den ‚Leistungsträgern‘ gehören, ausreisepflichtig werden“, so der Autor der Studie Dr. Schneider.
Fakt ist: Für den Wiederaufbau ist die Ukraine darauf angewiesen, dass auch derzeitig in der EU aufhältige Kriegsflüchtlinge daran mitwirken. „Deshalb sollten transnationale Lösungen wie zirkuläre Mobilität oder Remote Work verstärkt als Option in den Blick genommen werden“, empfiehlt Dr. Schneider. Das ist jetzt bereits zum Teil der Fall. „Wir beobachten eine große Flexibilität: Freizügigkeitsregelungen sorgen dafür, dass Ukrainerinnen und Ukrainer ihren Aufenthaltsort in der EU bereits weitgehend selbst bestimmen können. Diese Mobilität sollte insbesondere vor dem Hintergrund eines möglichen EU-Beitritts der Ukraine aufrechterhalten werden; Maßnahmen zur Rückkehrförderung müssen mit Wiederaufbauunterstützung eng verknüpft werden.“ Dies könne etwa durch spezielle Kredite, Wirtschafts- und Handelskooperationen oder Projekte zum Wissens- und Arbeitskräfteaustausch erreicht werden.
„Hier muss die EU ihre gemeinsame Politik fortführen. Nur so kann die einzigartige Leistung, die mit der erstmaligen Aktivierung der Richtlinie für temporären Schutz erreicht wurde, auch nachhaltig wirken“, so Dr. Schneider. Eine pragmatische Lösung wäre eine abermalige Verlängerung der EU-Richtlinie zum temporären Schutz – und zwar im Rahmen eines ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens auf EU-Ebene. „Damit könnte Zeit für die Erarbeitung einer die verschiedenen Interessen verbindenden Strategie gewonnen werden. Die EU-Mitgliedstaaten könnten so noch vor der Europawahl deutlich machen, dass sie weiterhin solidarisch hinter der Ukraine stehen. Im Hinblick auf die derzeit schwindende Unterstützung wäre dies ein wichtiges politisches Zeichen.“
Angesichts der anstehenden Europawahl im Juni dieses Jahres ist jedoch fraglich, ob sich die EU in Bezug auf den Aufenthalt von Ukraine-Flüchtlingen rechtzeitig auf eine gemeinsame Strategie verständigen kann. Die Bundesregierung sollte deshalb alle aufenthaltsrechtlichen Optionen für Schutzbedürftige aus der Ukraine prüfen, die auf nationaler Ebene zur Verfügung stehen. „Wenn die entsprechenden Erteilungsvoraussetzungen vorliegen, sollten die Ausländerbehörden bereits jetzt zur Beantragung eines Aufenthaltstitels mit Zukunftsperspektive raten – etwa zu Ausbildungs- und Erwerbszwecken. Leider gibt es hier diverse rechtliche Unklarheiten, die Bund und Länder ausräumen sollten“, so Dr. Schneider.
Insbesondere für vorübergehend Geschützte, die an deutschen Hochschulen studieren, gibt es derzeit keine legale Option, eine Aufenthaltserlaubnis zum Studium zu beantragen, da eine Regelung im EU-Recht einen solchen Wechsel verbietet. Im Falle eines fortgesetzten Krieges sollten außerdem auch alternative Schutzoptionen für diejenigen geprüft werden, denen bis 2025 kein Übergang in eine reguläre Aufenthaltserlaubnis gelingt. „Sonst droht das, was mit der Aktivierung der EU-Richtlinie zum vorübergehenden Schutz verhindert werden sollte: Eine Überlastung der Asylsysteme durch individuelle Asylanträge in hoher Zahl“, fasst Dr. Schneider ein zentrales Ergebnis der SVR-Studie zusammen.
Die Presseinformation steht unter diesem Link zum Download zur Verfügung.
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Über den Sachverständigenrat
Der Sachverständigenrat für Integration und Migration ist ein unabhängiges und interdisziplinär besetztes Gremium der wissenschaftlichen Politikberatung. Mit seinen Gutachten soll das Gremium zur Urteilsbildung bei allen integrations- und migrationspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie der Öffentlichkeit beitragen. Dem SVR gehören neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Hans Vorländer (Vorsitzender), Prof. Dr. Birgit Leyendecker (Stellvertretende Vorsitzende), Prof. Dr. Havva Engin, Prof. Dr. Birgit Glorius, Prof. Dr. Marc Helbling, Prof. Dr. Winfried Kluth, Prof. Dr. Matthias Koenig, Prof. Sandra Lavenex, Ph.D., Prof. Panu Poutvaara, Ph.D.