SVR legt Leitlinien für ein Einwanderungsgesetz vor
SVR sieht in der aktuellen Debatte um ein Einwanderungsgesetz die Chance zur Entwicklung einer breit getragenen migrationspolitischen Gesamtstrategie. Diese sollte aus der Sicht des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) gesamthaft, langfristig und arbeitsmarktgeerdet sein und sich an den Interessen Deutschlands ausrichten. Ein einfaches „Wir machen es wie Kanada“ geht jedenfalls an den Realitäten vorbei. Wichtig ist auch, die gesellschaftliche Debatte um die Ausgestaltung eines Einwanderungsgesetzes als Chance zu begreifen, um das Selbstverständnis Deutschlands als Einwanderungsland zu stärken.
Berlin, 27. Februar 2015. „Ein Einwanderungsgesetz bietet für Deutschland die Chance, eine zuvor entwickelte migrationspolitische Gesamtstrategie umzusetzen sowie alle Einzelregelungen zur Zuwanderung aus der EU und Drittstaaten zusammenzuführen und Arbeitsmigration, Familiennachzug, Zuzug von internationalen Studierenden und Flüchtlingen konzeptionell zusammenzubringen. Die bewährten Neuregelungen der letzten Jahre, die Deutschland im Bereich der Arbeitsmigration aus Drittstaaten zu einem modernen Einwanderungsland gemacht haben, sollten darin erhalten bleiben“, sagte Prof. Dr. Christine Langenfeld, Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). In so einem Einwanderungsgesetz können die bislang unverbundenen migrationspolitischen Themenfelder gebündelt und miteinander verknüpft werden. Dazu muss die Debatte über eine migrationspolitische Gesamtstrategie fortgesetzt werden, die beispielsweise in der ressortübergreifenden Staatssekretärs-Arbeitsgruppe zur internationalen Migration bereits begonnen hat. Eine solche migrationspolitische Gesamtstrategie beinhaltet auch die Identifikation künftiger Herkunftsländer von Neuzuwanderern, in denen sich Deutschland als Einwanderungsland positioniert. Denn auf die EU-Binnenmigration und die Freizügigkeit allein kann sich Deutschland nicht dauerhaft verlassen, weil aus vielen Auswanderungsländern von heute Einwanderungsländer von morgen werden. Schließlich sollte ein grundsätzlicher Abgleich mit dem Bedarf des Arbeitsmarktes bei der Zuwanderung aus Drittstaaten beibehalten werden.
„Ein gut gemachtes Einwanderungsgesetz wäre ein großer Gewinn für ein offensives Marketing der liberalisierten Zuwanderungsregelungen im Ausland“, sagte Langenfeld. Im Zuge der rechtlichen Novellierung müsse eine gesellschaftliche Debatte über die Ausgestaltung des Einwanderungsgesetzes stattfinden. „Wir brauchen ein breit getragenes Selbstverständnis, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist“, sagte die SVR-Vorsitzende. „Das ist wichtig für den inneren Zusammenhalt und die Entwicklung von Gemeinsamkeit in einer immer vielfältiger werdenden Einwanderungsgesellschaft.“
Aus Sicht des SVR sind bei der Formulierung des Einwanderungsgesetzes die folgenden Prinzipien und Leitlinien wesentlich:
(1) Die aktuelle politische Diskussion um ein Einwanderungsgesetz bietet die Chance, eine migrationspolitische Gesamtstrategie als Grundlage für ein Einwanderungsgesetz zu entwickeln. Diese sollte in einem Nationalen Aktionsplan Migration (NAM) festgelegt werden. „Dazu gehört auch die Verständigung darüber, in welchen Bereichen wir welchen Bedarf an Zuwanderung haben“, sagte Langenfeld. Politik, Arbeitgeber und Gewerkschaften, Universitäten sowie ggf. weitere Akteure sollten sich in einem koordinierten Prozess über den Bedarf an Zuwanderung verständigen und in ihrem Bereich Verantwortung für eine gelingende Einwanderungspolitik übernehmen. Staat und Gesetzgeber können hier nicht alles richten.
(2) Deutschland sollte am Grundprinzip der ‚Arbeitsmarkterdung‘ festhalten, d. h. ein Arbeitsvertrag und eine (anerkannte) Berufsqualifikation sollten weiterhin die zentrale Voraussetzung für eine Zuwanderung nach Deutschland bleiben. Ergänzend besteht bereits jetzt eine, wenn auch viel zu wenig genutzte, Möglichkeit für hoch qualifizierte Drittstaatsangehörige, unter bestimmten Voraussetzungen auch ohne Arbeitsvertrag zur Arbeitsuche (§ 18c AufenthG) einzureisen. Damit hat Deutschland seit 2012 ein zuwanderungspolitisches Mischsystem, das eine starke ‚Arbeitsmarkterdung‘ mit einem humankapitalorientierten Element verbindet. An dieser bewährten Grundstruktur sollte festgehalten werden (siehe auch 3 und 4).
(3) Die Regelung, die Drittstaatsangehörigen mit akademischem Abschluss eine sechsmonatige Einreise zur Arbeitsplatzsuche ermöglicht, wenn sie über ausreichende finanzielle Mittel zur Sicherung ihres Lebensunterhalts während der Jobsuche verfügen, stellt in ihrer Anlage bereits ein Mini-Punktesystem dar (siehe auch 4). Die zunächst bis 1. August 2016 befristete Regelung hat sich grundsätzlich bewährt. „Es ist sehr zu begrüßen, dass diese Regelung nun entfristet werden soll“, sagte Langenfeld. Von zentraler Bedeutung ist aber eine effektive Vermittlung in den Arbeitsmarkt. Hierfür sollten entsprechende Plattformen und Netzwerke entwickelt werden, die Arbeitgeber und Arbeitsuchende aus Drittstaaten zusammenbringen (Pool-Lösung).
(4) Aktuell wird von einigen Seiten die Einführung eines Punktesystems nach kanadischem Vorbild gefordert. Wer das fordert, übersieht, dass sich Kanada längst von einem klassischen Punktesystem verabschiedet hat. Da Neuzuwanderer, die ohne Arbeitsvertrag und auf Basis des Punktesystems eingereist waren, häufig Schwierigkeiten hatten, einen adäquaten Arbeitsplatz zu finden, spielt seit einigen Jahren auch in Kanada ein vorliegender Arbeitsvertrag im Auswahlverfahren eine zentrale Rolle. Kanada und Deutschland haben sich in der Zuzugssteuerung längst aufeinander zubewegt und ein ähnliches Mischsystem aus arbeitsmarkt- und humankapitalorientierten Verfahren geschaffen. Auch müsste ein Punktesystem als konkurrierendes Parallelsystem zur EU-weiten Blue Card installiert werden. Dies würde die ohnehin schon komplexen Zuwanderungsregelungen unnötig verkomplizieren. „Die Blue Card für hoch qualifizierte Zuwanderer aus Drittstaaten hat sich zur zentralen Säule der deutschen Arbeitsmigrationspolitik entwickelt und sollte dies auch bleiben“, sagte Langenfeld.
(5) Die Anerkennung beruflicher Qualifikationen und das Einwanderungsrecht müssen stärker aufeinander abgestimmt werden. Das gilt insbesondere für die Zuwanderung von nichtakademischen Fachkräften. Hier ist es wichtig, auch verstärkt Teilanerkennungen vorzusehen und dies mit der Möglichkeit der Nachqualifikation in Deutschland zu verbinden. Nach der Anerkennung muss den Menschen auch die Möglichkeit eröffnet werden, einen der beruflichen Qualifikation entsprechenden Arbeitsplatz zu suchen. Eine entsprechende Regelung ist in § 17a des Gesetzentwurfs zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung bereits vorgesehen. Damit werden zum einen die bestehenden Möglichkeiten zur Arbeitsplatzsuche für Akademiker und ausländische Absolventen deutscher Hochschulen ergänzt und zum anderen wird die Öffnung Deutschlands für nichtakademische Fachkräfte fortgesetzt, die mit der Reform der Beschäftigungsverordnung 2013 begonnen wurde.
(6) Das Potenzial internationaler Studierender, die ihren Hochschulabschluss in Deutschland gemacht haben, muss noch stärker erschlossen werden. Sie sind aus der Sicht des SVR ‚Idealzuwanderer‘, da sie bereits erste Integrationsschritte gemacht haben und hervorragend qualifiziert sind. Das Interesse ist auf beiden Seiten groß: Ein Großteil der ausländischen Absolventen will nach dem Studium Arbeitserfahrung in Deutschland sammeln und Deutschland möchte die hier ausgebildeten Akademiker auch am Arbeitsmarkt einsetzen, nachdem es in ihre Ausbildung investiert hat. Die rechtlichen Möglichkeiten für Absolventen wurden zwar verbessert und die Möglichkeit zur Arbeitsuche auf 18 Monate ausgedehnt. Unzureichende Deutschkenntnisse, fehlende Kontakte und Informationen über den Arbeitsmarkt sind aber weiterhin große Hürden. In diesen Bereichen sind berufsorientierte Deutschkurse und gezielte Beratungen der Graduierten und ihrer potenziellen Arbeitgeber notwendig.
(7) Die Entscheidung, in ein anderes Land zu ziehen, betrifft meist die ganze Familie. Die Regelungen für den Familiennachzug und vor allem die Arbeitsmöglichkeiten für den Partner und andere Familienangehörige spielen daher eine wichtige Rolle bei der Entscheidung, in welches Land qualifizierte Zuwanderer ziehen. Wenn ihre Familienangehörigen eine Arbeit aufnehmen können, ist dies auch für das Aufnahmeland von Vorteil, da dies eine zügige Integration gewährleistet. Der Gesetzgeber hat dies erkannt und erlaubt Drittstaatsangehörigen, die zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit nach Deutschland kommen, die Einreise und den Aufenthalt der minderjährigen Kinder und der Ehe-/Lebenspartner, die seit September 2013 auch über einen uneingeschränkten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt verfügen. Eine verknüpfte Zuwanderungs- und Integrationspolitik, die auch nachziehende Ehepartner einbezieht, trägt langfristig zu einer generationenübergreifenden Integration der Zuwandererfamilien bei und vermeidet die Fehler der Vergangenheit, die eine nachholende Integration nötig machten.
(8) Deutschland hat eine humanitäre Verpflichtung gegenüber Asylbewerbern und Flüchtlingen. Eine zügige Bearbeitung von Asylanträgen ist auch aus integrationspolitischen Erwägungen wichtig. Die im Koalitionsvertrag formulierte Bearbeitungsdauer von drei Monaten ist daher als Zielmarke weiter zu verfolgen. Flüchtlinge erhalten dadurch schnellstmöglich Klarheit über ihre Bleibeperspektive, und Integrationsmaßnahmen können frühzeitig greifen. Seit Ende 2014 können Asylbewerber mit Aufenthaltsgestattung und Personen mit Duldung bereits nach drei Monaten einen Arbeitsplatz suchen. Diese Regelung bedarf aber noch flankierender Maßnahmen wie Sprachkursen sowie Unterstützung bei der Anerkennung der Berufsqualifikation und bei der Arbeitsuche, damit diese auch erfolgreich verläuft. Vorschläge, wonach gut qualifizierte Asylbewerber vor Abschluss ihres Asylverfahrens oder nach der Ablehnung des Schutzgesuchs eine ‚Abzweigung‘ in den Arbeitsmarkt nehmen können, lehnt der SVR im Grundsatz ab, weil damit ein zusätzlicher Anreiz für eine Fluchtmigration nach Europa entsteht und Unterscheidungen zwischen Flüchtlingen in Hinblick auf ihre Qualifikation getroffen werden. So eine Unterscheidung ist aber weder ethisch vertretbar, noch politisch umsetzbar. „Für Arbeitsmigration sollten die bestehenden Kanäle für qualifizierte Arbeitskräfte genutzt werden, die allerdings gerade in Hinblick auf das Problem der mixed flows bei Flüchtlingen erweitert werden sollten, etwa durch den Ausbau von Mobilitätspartnerschaften mit Entwicklungsländern, um weitere Möglichkeiten der legalen Zuwanderung zu schaffen“, sagte Langenfeld.
Für die Aufnahme von Flüchtlingen bietet sich als zusätzliches und ergänzendes Instrument das sog. Resettlement für eine dauerhafte Niederlassung an. Auch temporäre Schutzverfahren für Flüchtlinge aus Kriegsgebieten stellen eine sinnvolle Ergänzung dar, um den Betroffenen den Weg über das Asylverfahren zu ersparen und ihnen unbürokratisch Schutz zu bieten. Auf europäischer Ebene ist zudem eine faire Lastenteilung bei der Aufnahme von Flüchtlingen ernsthaft zu diskutieren und dann auch anzuwenden. „Wenn das politisch nicht geschieht, dann wird der öffentliche Druck auf das Dublin-Abkommen und auf die grundsätzliche Regelung der Zuständigkeit für Asylverfahren größer und größer“, meinte Langenfeld, die zugleich auch feststellte, dass es „derzeit zu Dublin keine brauchbare Alternative gibt.“
(9) Die 2005 eingeführten Integrationskurse für Zuwanderer sind derzeit im Aufenthaltsgesetz verankert und sollten in ein künftiges Einwanderungsgesetz überführt werden. Das Angebot aus einer Kombination von Sprachkursen und umfassenden Informationen über das Leben in Deutschland und die hier geltenden Regeln und Normen hat sich bewährt. Berufsbezogene Sprachkurse erleichtern darüber hinaus die Integration in den Arbeitsmarkt und sollten ausgebaut werden. Eine ausreichende Finanzierung dieser Kursangebote ist zu sichern. Zudem sollte Flüchtlingen mit guten Bleibeperspektiven (z. B. aus Syrien) die Teilnahme an Integrationskursen ermöglicht werden, um ihre Chancen auf rasche Teilhabe in Deutschland zu verbessern.
Nach den Reformen der vergangenen Jahre gehört Deutschland im Bereich der Arbeitsmigrationspolitik zu den liberalsten Ländern weltweit. „Es ist gut, dass infolgedessen mehr Fachkräfte und Hochqualifizierte zuziehen, denn wir brauchen sie“, sagte Langenfeld. Zuwanderung ist – neben der Erschließung inländischer Potenziale – ein wichtiger Baustein, um den absehbaren demografisch bedingten Fachkräftemangel abzumildern. Zuwanderung ist ein Beitrag zum Erhalt der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Daher muss Deutschland als Zielland qualifizierter Zuwanderer an Attraktivität gewinnen. Dazu gehören klare Zuzugsregelungen, ein im Ausland kommuniziertes Selbstverständnis Deutschlands als Einwanderungsland und eine praktizierte Willkommenskultur nach außen und nach innen. Ein Einwanderungsgesetz, in dem die rechtlichen Grundlagen einer migrationspolitischen Gesamtstrategie Deutschlands gebündelt sind, kann hierbei eine entscheidende Funktion einnehmen.
Die Pressemitteilung können Sie hier herunterladen:
PM SVR Leitlinien Einwanderungsgesetz
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Über den Sachverständigenrat
Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration geht auf eine Initiative der Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung zurück. Ihr gehören sieben Stiftungen an. Neben der Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung sind dies: Bertelsmann Stiftung, Freudenberg Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und Vodafone Stiftung Deutschland. Der Sachverständigenrat ist ein unabhängiges und gemeinnütziges Beobachtungs-, Bewertungs- und Beratungsgremium, das zu integrations- und migrationspolitischen Themen Stellung bezieht und handlungsorientierte Politikberatung anbietet. Die Ergebnisse seiner Arbeit werden in einem Jahresgutachten veröffentlicht.
Dem SVR gehören neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Christine Langenfeld (Vorsitzende), Prof. Dr. Ludger Pries (Stellvertretender Vorsitzender) sowie Prof. Dr. Gianni D’Amato, Prof. Dr. Thomas K. Bauer, Prof. Dr. Wilfried Bos, Prof. Dr. Claudia Diehl, Prof. Dr. Heinz Faßmann, Prof. Dr. Christian Joppke und Prof. Dr. Hacı Halil Uslucan.