‚Blackbox‘ Verwaltung: Der praktische Umgang mit Staatenlosigkeit und ungeklärter Staatsangehörigkeit
Mehr als 125.000 Menschen leben hierzulande als Staatenlose oder mit ungeklärter Staatsangehörigkeit. Deutschland ist als Vertragsstaat des Übereinkommens über die Rechtstellung von Staatenlosen verpflichtet, Menschen ohne Staatsangehörigkeit zu identifizieren und ihnen Zugang zu nationalen und internationalen Rechten zu gewähren. Ein einheitliches Feststellungsverfahren gibt es in Deutschland jedoch noch nicht. Die praktizierten Verfahren sind komplex, die Handhabung ist uneinheitlich. Eine Studie des wissenschaftlichen Stabs des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR) beschreibt die Verwaltungspraxis in deutschen Behörden im Umgang mit dem Thema und zeigt, wie der Status quo verbessert und Herausforderungen überwunden werden können.
Berlin, 26. Juni 2024. Staatenlose und Personen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit bilden eine heterogene Gruppe: Unter ihnen sind Zugewanderte ebenso wie Menschen, die bereits in Deutschland geboren wurden; ein großer Teil hat einen Fluchthintergrund, nicht alle verfügen über Aufenthaltspapiere. „Die Wege der betroffenen Personen durch die deutschen Behörden unterscheiden sich je nach Ausgangslage“, erläutert Maximilian Müller, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim SVR. „Eins ist aber immer gleich: Bei der Feststellung von Staatenlosigkeit handelt es sich um eine zeitaufwändige und komplexe Prüfung“, so der Studienautor.
Im Gegensatz zu anderen EU-Ländern wie Frankreich oder Spanien gibt es in Deutschland kein einheitliches und etabliertes Feststellungsverfahren, wie die explorative Studie zeigt, die vor allem die zuständigen Ausländerbehörden in den Blick nimmt – ein gleichermaßen großer Nachteil für die Betroffenen und die Verwaltungsmitarbeitenden. „Behörden stellen unterschiedliche Ansprüche an die Mitwirkung der Betroffenen; die Grenzen der Zumutbarkeit werden uneinheitlich definiert und von der einen Behörde getroffene Entscheidungen sind für andere nicht unbedingt bindend“, berichtet Maximilian Müller. „Das führt häufig zu Verunsicherung bei den Betroffenen wie Mitarbeitenden der Behörden selbst.“
Hinzu kommen weitere Hürden – etwa fehlende Kooperation potenzieller Herkunftsstaaten oder Kapazitätsengpässe bei deutschen Behörden. „Häufig kann die Staatenlosigkeit deshalb nicht abschließend festgestellt werden; der prekäre Status ‚ungeklärt‘ bleibt Dauerzustand. Um das zu verhindern, sollten die gesetzlichen und verwaltungsrechtlichen Regelungen angepasst werden. Die Zahl der Betroffenen ist in den vergangenen Jahren gestiegen, der Handlungsbedarf damit auch“, so der SVR-Mitarbeiter. Waren 2014 rund 15.000 staatenlose Menschen in Deutschland registriert, sind es zehn Jahre später bereits 29.500. Die Zahl der Menschen, deren Staatsangehörigkeit ungeklärt ist, stieg im gleichen Zeitraum von 43.000 Personen auf inzwischen über 96.000.
Damit Feststellungsverfahren transparent gestaltet werden können, sind einheitliche Regelungen nötig. „Es braucht Leitplanken: Zuständigkeiten, Mitwirkungspflichten und Grenzen der Zumutbarkeit müssen klar definiert werden“, sagt Studienautor Maximilian Müller. „So könnte zum Beispiel festgelegt werden, wie häufig die Betroffenen eine Vertretung des mutmaßlichen Herkunftslands zur Klärung einer etwaigen Staatsangehörigkeit kontaktieren müssen und welche Wartefristen angemessen sind. Zudem sollte geregelt werden, wie lange ein Feststellungsverfahren insgesamt dauern darf.“
Ein weiterer wichtiger Schritt ist eine Zentralisierung des Prozesses, um Wissen und Handeln zu bündeln und Ressourcen zu schonen. In Deutschland könnte dies auf Bundes- oder auf Landesebene erfolgen. „Das setzt natürlich einen entsprechenden politischen Willen voraus“, erläutert Dr. Jan Schneider, Leiter des Bereichs Forschung beim SVR. „Asylverfahren könnten als Vorbild dienen: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge würde als zentrale Behörde die Staatenlosigkeit der Antragstellenden prüfen; die Entscheidung wäre dann für andere Behörden bindend.“ Alternativ empfiehlt der wissenschaftliche Stab des SVR, Feststellungsverfahren auf Landesebene zu bündeln – etwa bei den in einigen Ländern eingerichteten zentralen Ausländerbehörden. Zumindest sollten Austauschforen eingerichtet bzw. gefördert werden, in denen am Prozess beteiligte Verwaltungsstellen Unterstützung suchen können.
Ein Feststellungsverfahren zur Anerkennung von Staatenlosigkeit ist nicht für alle Gruppen sinnvoll. „Menschen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, sollten stattdessen einen vereinfachten Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit erhalten. Hier ist eine Einbürgerung nach fünfjährigem rechtmäßigen Inlandsaufenthalt möglich. Im Rahmen der jüngst erfolgten Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes wurde dieses Thema allerdings nicht zufriedenstellend behandelt“, sagt Dr. Schneider. „Deshalb muss auf untergesetzlicher Ebene nachgebessert werden, idealerweise bei der Überarbeitung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Staatsangehörigkeitsrecht. Wenn es dazu nicht kommt, sollte das zuständige Bundesministerium des Innern und für Heimat seine Anwendungshinweise zum Staatsangehörigkeitsrecht entsprechend klar formulieren.“ Der Sachverständigenrat für Integration und Migration vertritt die Auffassung, dass Kinder von anerkannten Staatenlosen, die seit mindestens fünf Jahren in Deutschland leben, bei der Geburt automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten sollten.
Die Studie entstand im Rahmen des Projekts „Staatenlosigkeit in Deutschland: Umfang, Soziodemografie und administrative Verfahren“, das von der Robert Bosch Stiftung gefördert wird. „Der Weg von ungeklärter Staatsangehörigkeit zu De-jure-Staatenlosigkeit ist sowohl von den rechtlichen Rahmenbedingungen als auch vom behördlich-institutionellen Umgang abhängig“, stellt Dr. Raphaela Schweiger, Leiterin des Migrationsprogramms der Robert Bosch Stiftung, fest. „Die qualitativen Interviews unter Behördenmitarbeitenden erlauben Einblicke in die behördliche Praxis im Umgang mit Staatenlosigkeit und ungeklärter Staatsangehörigkeit und die praxisorientierten Handlungsempfehlungen sind wertvolle Impulse für die Weiterentwicklung der Rechts- und Verwaltungspraxis.“
Die Presseinformation steht unter diesem Link zum Download zur Verfügung.
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Über den Sachverständigenrat
Der Sachverständigenrat für Integration und Migration ist ein unabhängiges und interdisziplinär besetztes Gremium der wissenschaftlichen Politikberatung. Mit seinen Gutachten soll das Gremium zur Urteilsbildung bei allen integrations- und migrationspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie der Öffentlichkeit beitragen. Dem SVR gehören neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Hans Vorländer (Vorsitzender), Prof. Dr. Birgit Leyendecker (Stellvertretende Vorsitzende), Prof. Dr. Havva Engin, Prof. Dr. Birgit Glorius, Prof. Dr. Marc Helbling, Prof. Dr. Winfried Kluth, Prof. Dr. Matthias Koenig, Prof. Sandra Lavenex, Ph.D., Prof. Panu Poutvaara, Ph.D.
Der wissenschaftliche Stab unterstützt den Sachverständigenrat bei der Erfüllung seiner Aufgaben und betreibt darüber hinaus eigenständige, anwendungsorientierte Forschung im Bereich Integration und Migration. Dabei folgt er unterschiedlichen disziplinären und methodischen Ansätzen. Die Forschungsergebnisse werden u. a. in Form von Studien, Expertisen und Policy Briefs veröffentlicht.