Klimawandel und Migration: was wir über den Zusammenhang wissen und welche Handlungsoptionen es gibt
Jahresgutachten 2023
Der Klimawandel ist eine der größten Herausforderungen der Gegenwart. Die Folgen der globalen Erderwärmung sind vielschichtig. Klimawandelbedingte Umweltveränderungen und Extremwetterereignisse verschärfen nicht nur bestehende soziale, ökonomische oder politische Problemlagen, sondern erhöhen auch den Migrationsdruck. Klimawandelbedingte Migration nimmt zu. Der SVR hat in seinem 14. Jahresgutachten untersucht, wie der Klimawandel das globale, regionale und lokale Migrationsgeschehen beeinflusst und welche Erfordernisse sich hieraus für migrations- und flüchtlingspolitisches Handeln ergeben.
SVR Annual Report Summary 2023 (Zusammenfassung auf Englisch)
Video Statement des SVR-Vorsitzenden Prof. Hans Vorländer zum Jahresgutachten 2023
Klimawandelbedingte Migration nimmt zu
Klimawandelbedingte Migration stellt keine neue und klar abgrenzbare Form der Migration dar. Auch können Extremwetterereignisse wie Starkregen oder Hurrikans oder schleichende Umweltveränderungen wie der Wegfall von Landfläche und Bodenversalzung durch Meeresspiegelanstieg nicht immer eindeutig auf den Klimawandel zurückgeführt werden. Aber: Der Klimawandel ist ein Metafaktor, der bestehende Migrationsmuster beeinflusst. Er verschärft bereits vorhandene soziale, ökonomische oder politische Problemlagen und erhöht damit den Migrationsdruck. Vorhandene Szenarien und Prognosen zeigen, dass klimawandelbedingte Migration in den kommenden Jahren weiter zunehmen wird.
Gesamtes Instrumentarium der Flüchtlings- und Migrationspolitik nutzen
Bei der Bewältigung von klimawandelbedingter Migration sollte nach Ansicht des SVR das gesamte migrationspolitische Instrumentarium genutzt werden. Dazu gehören Maßnahmen aus der Flüchtlingspolitik wie die Vergabe von humanitären Visa, eine temporäre Schutzgewährung oder auch die Aussetzung von Rückführungen in betroffene Länder und Regionen, sowie Ansätze aus der Migrationspolitik wie regionale Abkommen zur Personenfreizügigkeit. Mit drei Instrumenten – dem Klima-Pass, der Klima-Card und dem Klima-Arbeitsvisum – kann die Bundesregierung zudem international eine Vorreiterrolle einnehmen.
Umfassende Strategie gegen den Klimawandel erforderlich
Die vom SVR empfohlenen Maßnahmen sind als Bausteine einer größeren Gesamtstrategie zu verstehen, die alle politischen Ebenen, die Wirtschaft und Gesellschaft umfasst und ein koordiniertes Handeln über Ressortgrenzen hinweg erfordert. Das bedeutet:
- Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Politikfeldern müssen auf allen Ebenen stärker in den Blick genommen werden.
- Notwendig ist u. a. eine kohärente Klimaaußenpolitik, die migrationspolitische Aspekte einschließt und von allen Ressorts getragen wird.
- Deutschland sollte auf den Auf- und Ausbau eines globalen Risikomanagements hinwirken und durch entwicklungspolitische Ansätze Anpassungsmaßnahmen vor Ort fördern.
- Deutschland sollte international auf eine faire Kostenteilung hinwirken. Benötigt werden finanzwirtschaftliche Einigungen, z. B. globale Fonds.
- Letztlich entscheidend wird sein, in welchem Maße und wie schnell es gelingt, den CO2-Ausstoß weltweit zu begrenzen.
Weitere Informationen
Seinem Mandat entsprechend hat der SVR die Forschungslage und Forschungslücken aufgearbeitet, innovative Ansätze geprüft und Handlungsoptionen beschrieben. Die wichtigsten Ergebnisse sind in den Kernbotschaften zusammengefasst.
Kernbotschaften 2023
1. Der Klimawandel verstärkt bestehende Treiber von Migration
Einzelne Umweltkatastrophen können nicht immer eindeutig auf den Klimawandel zurückgeführt werden, und die Wirkung von Umweltveränderungen auf Flucht oder Vertreibung lässt sich generell nicht von anderen Einflussgrößen isolieren. Ein Blick auf den Forschungsstand zeigt jedoch, dass klimawandelinduzierte Umweltveränderungen und Extremwetterereignisse bestehende soziale, ökonomische oder politische Problemlagen verschärfen. Damit können sie auch den Migrationsdruck erhöhen. Wenn der Kampf gegen den Klimawandel und seine Folgen scheitert, wird damit auch neue Migration notwendig. Klimawandelbedingte Migration stellt allerdings keine neue und klar abgrenzbare Form der Migration dar, sondern ist hinsichtlich ihrer Ursachen und Wanderungsmotive eng mit anderen Migrationsformen verwoben.
Zusammenhänge zwischen Klimawandel und Migration müssen künftig genauer und frühzeitiger erfasst werden, damit die Politik darauf reagieren kann. Das erfordert auch weitere Forschung. Dabei geht es weniger um genaue Zahlen zu klimawandelinduzierter Migration – hier stößt die Wissenschaft auch weiterhin an Grenzen, weil die verschiedenen Faktoren sich in komplexer Weise wechselseitig beeinflussen und zum Teil auch keine geeigneten Daten verfügbar sind (vgl. Kernbotschaft 3). Mithilfe empirischer Studien und umfassender Daten lassen sich aber spezifische Dynamiken der Klimamigration und Risikofaktoren für gesteigerte Vulnerabilität konkreter erfassen. Die Forschung bildet hier eine Nahtstelle: Sie kann und sollte Entscheidungsträgerinnen und -trägern wie auch Betroffenen helfen, nachhaltige Anpassungsstrategien zu entwickeln.
Für weitere Informationen s. Kap. A.1.2 und A.2.1.
2. Klimawandelbedingte Migration erfolgt meist innerstaatlich oder in Nachbarländer, selten über Kontinente hinweg
Klimawandelbedingte Migration erfolgt meist innerstaatlich oder in Nachbarländer, selten über Kontinente hinweg Klimawandelbedingte Migration zeigt sich bereits überall auf der Welt, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Sie findet in erster Linie innerhalb der Länder und zwischen direkt benachbarten Ländern statt. Internationale Migration über den Kontinent hinaus, z. B. von Afrika nach Europa, bildet hingegen bislang die Ausnahme.
Zu innerstaatlicher Mobilität und Migration kommt es z. B. regelmäßig durch plötzlich auftretende Extremwetterereignisse (wie Stürme oder Überschwemmungen). Nach Schätzungen der Beobachtungsstelle für Binnenvertreibung (IDMC) gingen im Jahr 2021 von insgesamt rund 38 Millionen internen Vertreibungen 22,3 Millionen auf solche Ereignisse zurück. Doch auch bei langsam voranschreitenden klimawandelbedingten Umweltveränderungen und bei wiederkehrenden Unwetterereignissen erfolgt der größte Teil der Migration innerhalb von Staaten oder zwischen benachbarten Ländern.
Die Länder des globalen Südens sind von den Folgen des Klimawandels besonders stark betroffen. Das liegt nicht nur an ihrer geografischen Lage, sondern auch an ihren geringeren finanziellen Ressourcen. Die wirtschaftsstarken Länder, die für das Voranschreiten des Klimawandels historisch wie aktuell in besonderem Maß verantwortlich sind, können sich z. B. eher Frühwarnsysteme, Katastrophenschutz, Wiederaufbau- und Ausgleichsmaßnahmen leisten. In ärmeren Ländern, die für den Klimawandel historisch weniger verantwortlich sind, fehlen hingegen meist die nötigen Mittel für solche Maßnahmen. Nicht nur die Risiken sind also global ungleich und ungerecht verteilt, sondern auch die Möglichkeiten, sich dem Klimawandel anzupassen. Hier müssen faire Lösungen entworfen und umgesetzt werden. Besonders vulnerable Menschen und Länder dürfen mit den Bedrohungen und den erforderlichen Anstrengungen für den Umgang damit nicht alleingelassen werden.
Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. A.2, besonders A.2.1.1.
3. Migration infolge des Klimawandels wird zunehmen, auch wenn Prognosen dazu mit Unsicherheiten behaftet sind
Prognosen und Szenarien bilden wichtige Instrumente für vorausschauendes politisches Handeln: Sie geben Orientierung und verdeutlichen dringenden Handlungsbedarf. Allerdings können Prognosen und Szenarien nicht mit letzter Sicherheit vorhersagen, wie sich klimawandelbedingte Migration zukünftig entwickeln wird. Das liegt an Datenlücken, aber auch daran, dass Migrationsentscheidungen von zahlreichen Faktoren abhängen. Nicht zuletzt gibt es auch hinsichtlich der weiteren Entwicklung des Klimawandels eine Reihe offener Fragen: Wann und in welchem Umfang werden die Kohlenstoffemissionen gesenkt? Wo finden Anpassungsmaßnahmen statt, etwa Küstenschutz oder ein Übergang zur Nutzung dürreresistenter Pflanzensorten in der Landwirtschaft? Und welche Konsequenzen ziehen Menschen aus den Umweltveränderungen für sich und ihre Familien? Je nachdem, welche Annahmen etwa zur Entwicklungsdynamik des Klimawandels und zu den Reaktionen der davon betroffenen Menschen zugrunde gelegt, welche Erhebungsmethoden eingesetzt und welche Daten berücksichtigt werden, können Vorhersagen zu klimawandelbedingter Migration deutlich voneinander abweichen.
Doch selbst wenn das Ausmaß klimawandelbedingter Migration nicht im Detail vorhersehbar ist, weisen die vorliegenden Prognosen und Szenarien unmissverständlich in eine Richtung: Ein fortschreitender Klimawandel führt insgesamt zu mehr Migration. Laut dem zweiten Groundswell-Bericht aus dem Jahr 2021 könnten selbst bei optimistischen Annahmen mehr als 40 Millionen Menschen gezwungen sein, ihre Heimat zu verlassen, bei pessimistischer Lesart sogar weit über 200 Millionen. Die Betroffenen werden überwiegend innerhalb ihres Heimatlands oder in benachbarte Staaten ziehen; aber auch die internationale Migration wird zunehmen. Die vorliegenden Prognosen und Szenarien zeigen bei all ihrer Spannbreite überein- stimmend, wie dringlich politisches Handeln ist: Wenn kein wirksamer Klimaschutz geschaffen wird und zu wenig in nachhaltige Entwicklung und in Anpassung an nicht mehr abwendbare Folgelasten des Klimawandels investiert wird, müssen künftig deutlich mehr Menschen migrieren.
Prognosen und Szenarien sind für Entscheidungsträger und -trägerinnen ein zentrales Werkzeug zur langfristigen und vorausschauenden politischen Gestaltung. Solche Schätzungen können jedoch auch leicht aus dem Kontext gerissen und instrumentalisiert werden. Daher ist es nach Ansicht des SVR sehr wichtig, dass die Wissenschaft Prognosen und Szenarien zu klimawandelbedingter Migration verantwortungsbewusst präsentiert und einordnet und dass mediale wie politische Akteurinnen und Akteure sie entsprechend aufnehmen und damit sensibel umgehen. Dazu müssen nicht zuletzt die zugrunde gelegten Annahmen und gewählten Methoden wie auch die bestehenden Unsicherheiten und Einschränkungen transparent kommuniziert werden.
Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. A.3.
4. Die Staaten sollten das Recht zu bleiben schützen und zugleich Migration als Anpassungsstrategie ermöglichen
Wirtschaftlich benachteiligte Bevölkerungsgruppen sind von den Auswirkungen des Klimawandels meist am stärksten betroffen. Zugleich haben sie nur begrenzt die Möglichkeit, sich ihnen nachhaltig anzupassen. Auch Migration kann eine Strategie der Anpassung sein. Damit Migration zu einer effektiven und nachhaltigen Anpassungsstrategie werden kann, bedarf es aber finanzieller Ressourcen, Bildung bzw. beruflicher Qualifikation oder auch eines persönlichen Netzwerks. Menschen, die von natürlichen Ressourcen abhängig sind, beispielsweise von Landwirtschaft oder vom Fischfang leben, verfügen zumeist nicht über ausreichende Mittel, um an einem anderen Ort neu anzufangen. So geraten sie nach erfolgter Migration oftmals in prekäre Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse. Anderen fehlt für eine Migration schlichtweg das Geld – sie werden so zu trapped populations.
Migration im Kontext des Klimawandels sollte also nicht ausschließlich als ein Problem verstanden werden, das es zu verhindern gilt, sondern auch als proaktive Anpassungsstrategie. Beispielsweise können Rücküberweisungen an Angehörige im Herkunftsland deren gesunkene Einkommen ausgleichen oder auch Investitionen ermöglichen, die die Abhängigkeit von Wetterereignissen verringern oder die Anpassung an neue Umweltbedingungen fördern. In dieser Weise sollte Migration auch von den Staaten gestaltet werden: Es gilt, Migration als Investition in eine nachhaltige Zukunft zu ermöglichen und mit umfassenden Integrationsmaßnahmen zu begleiten. Dabei sollte das gesamte migrationspolitische Instrumentarium genutzt werden (s. hierzu auch Kernbotschaft 5).
Zugleich sind die Bedarfe derjenigen zu berücksichtigen, die aufgrund einer engen Bindung an einen Ort, eine Kultur oder ihre vertraute Gemeinschaft nicht migrieren wollen. Der SVR empfiehlt daher, in Anpassungsstrategien zu investieren und sie so zu gestalten, dass auch der Verbleib im Herkunftsland bzw. in der Region möglich und für die Betroffenen sinnvoll ist. Das Recht zu bleiben muss gestärkt werden – etwa durch einen verstärkten Klimaschutz, den Ausbau der Katastrophenvorsorge und bedarfsgerechte Anpassungsmaßnahmen vor Ort.
Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. A.2, besonders A.2.1.2.
5. Bei der Gestaltung klimawandelbedingter Migration sind alle politischen Ebenen und das gesamte migrationspolitische Instrumentarium gefragt
Um klimawandelbedingte Migration verantwortungsvoll politisch zu gestalten, müssen die vielschichtigen Rahmenbedingungen und die unterschiedlichen Ausprägungen des Phänomens berücksichtigt werden. Daher sollte das gesamte migrationspolitische Instrumentarium genutzt werden. Wo sich eine plötzliche (oft temporäre) Abwanderung nicht vermeiden lässt, weil die Menschen sich z. B. vor einer drohenden Umweltkatastrophe oder ihren Folgen in Sicherheit bringen müssen, können Ansätze aus der Flüchtlingspolitik im weitesten Sinne nützlich sein. Dazu zählen etwa humanitäre Visa, temporäre Schutzgewährung oder auch die Aussetzung von Rückführungen in Länder und Regionen, die von Katastrophen betroffen sind. Um Migration als gezielte Anpassungsstrategie zu ermöglichen, sind eher migrationspolitische Instrumente gefragt. Das können Arbeitsvisa sein oder bestehende Abkommen zur Personenfreizügigkeit, die auch vom Klimawandel betroffenen Menschen Zugang zu anderen Ländern ermöglichen (s. hierzu auch Kernbotschaften 7 und 8).
Bei der Umsetzung sind alle politischen Handlungsebenen gefordert: globale, regionale und nationale, aber auch lokale Akteure und Akteurinnen. Sie sollten verzahnt und koordiniert agieren. Besonders wichtig ist hier die nationale Ebene: Regionale oder globale Foren können zwar Empfehlungen aussprechen oder Abkommen beschließen, umsetzen müssen diese aber die nationalen Regierungen. Auf der globalen Ebene fehlt bislang die Fähigkeit, einen gemeinsamen Politikansatz zu formulieren und durchzusetzen (s. hierzu auch Kernbotschaft 6). Der SVR empfiehlt, dass Deutschland als Pionier die internationale Kooperation innerhalb der EU und in globalen Foren vorantreibt und darüber hinaus in enger Abstimmung mit den betroffenen Ländern neue Lösungsansätze entwickelt (s. hierzu auch Kernbotschaft 8).
Bei der politischen Gestaltung sind auch Gerechtigkeitsfragen zu berücksichtigen, denn die Verantwortung für den Klimawandel einerseits und dessen Auswirkungen andererseits sind global wie auch innergesellschaftlich höchst ungleich und ungerecht verteilt (s. hierzu auch Kernbotschaft 2). Staaten, die historisch einen hohen CO2-Ausstoß haben und viele natürliche Ressourcen verbrauchen, tragen eine besondere Verantwortung, den Klimaschutz voranzutreiben und andere Länder finanziell und technologisch (etwa durch Technologietransfer) oder durch neue Migrationsmöglichkeiten bei der Bewältigung klimawandelinduzierter Folgen zu unterstützen.
Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. B.1.2, B.2 und B.3.
6. Statt auf neue Abkommen zu setzen, sollten globale Vereinbarungen national und regional angewendet werden
Klimawandel, Flucht und Migration sind globale Herausforderungen. Eine ‚globale Governance für Klimamigration‘ gibt es jedoch bisher nicht. Rechtsverbindliche Instrumente des Völkerrechts wie die Genfer Flüchtlingskonvention lassen sich auf klimawandelbedingte Migration nur bedingt anwenden; Gleiches gilt für das menschenrechtliche non-refoulement-Prinzip. Deshalb wurde u. a. vorgeschlagen, neue völkerrechtliche Regelungen zu schaffen, die die Staaten verpflichten, ‚Klimaflüchtlingen‘ Schutz zu gewähren. Um dafür einen verbindlichen Mechanismus zu schaffen, wären jedoch erhebliche politische Hürden zu überwinden. Eine Neuverhandlung der Genfer Flüchtlingskonvention hat realpolitisch derzeit eher geringe Erfolgschancen. In etlichen Ländern wird das Flüchtlingsrecht zunehmend restriktiv ausgelegt, mancherorts sogar praktisch missachtet. Nach Einschätzung des SVR besteht daher ein hohes Risiko, dass Verhandlungen das bestehende Schutzregime nicht stärken, sondern vielmehr schwächen.
Jenseits verbindlicher Abkommen bestehen auf internationaler Ebene heute schon verschiedene informelle Kooperationsrahmen, die eine gute Grundlage für migrations- und flüchtlingspolitische Ansätze im Kontext klimawandelbedingter Wanderungen bieten. Hierzu gehören der Globale Migrationspakt, die Plattform zu katastrophen- bedingter Vertreibung und die Task Force on Displacement. In diesem Rahmen haben Staaten, internationale Organisationen und die Wissenschaft umfangreiche Leitlinien und Handlungsempfehlungen zu klimawandelbedingter Migration erarbeitet.
Der SVR empfiehlt, anhand der bereits vorhandenen Strukturen und Handlungsempfehlungen an den Klimawandel angepasste migrations- und flüchtlingspolitische Strategien zu konkretisieren und umzusetzen – besonders mit Blick auf diejenigen Länder und Regionen, die heute schon stark unter den Folgen der globalen Erderwärmung leiden. Dafür ist aus seiner Sicht ein Mosaik aus lokalen, regionalen und nationalen Ansätzen besser geeignet bzw. realistischer als ein globales Instrument, das neu entwickelt und verhandelt werden müsste. Gleichwohl muss die internationale Ebene gestärkt werden. Dafür empfiehlt der SVR, die Umsetzung der bestehenden Handlungsempfehlungen engmaschiger zu beobachten und die politische Koordination zwischen den Staaten zu verbessern. Die im Globalen Migrationspakt vorgeschlagenen Maßnahmen zum Umgang mit klimawandelbedingten Wanderungen könnten als Grundlage für ein solches Monitoring dienen. Zusätzlich sollten die vorhandenen Lösungsansätze aus den verschiedenen Prozessen und Foren zusammengeführt werden, um sie übersichtlicher zu gestalten.
Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. B.2.
7. Regionale Lösungsansätze fördern
Grenzüberschreitende Klimamigration erfolgt oft zwischen Nachbarländern (vgl. auch Kernbotschaft 2). Das ist ein Grund, warum die regionale Ebene bei der Bewältigung klimawandel-bedingter Migration eine besondere Rolle spielt. Zudem sind regionale Lösungsansätze realistischer, pragmatischer und schneller umsetzbar als globale. Besonders über Flüchtlingsschutz und Abkommen zu Personenfreizügigkeit kann eine würdevolle und geregelte, teils auch eine antizipierende Migration ermöglicht werden. Beispiele aus Lateinamerika und Afrika zeigen, dass beide Instrumente auch auf klimawandelbedingte Migration angewendet werden können.
Doch Menschen, die infolge des Klimawandels migrieren, stehen ebenso wie die Zielländer vor großen Herausforderungen: Wenn Menschen aus einem besonders vulnerablen Land in ein anderes migrieren, besteht für sie die Gefahr wiederholter Vertreibung und sozialer Marginalisierung. Hier stellt sich wiederum die Frage der Klimagerechtigkeit. Wie könnten z. B. die Industrienationen, also auch Deutschland und die übrigen EU-Mitgliedstaaten, regionale Lösungen in anderen Weltregionen unterstützen? Ein wichtiger Baustein sind finanzielle und technologische Transfers an Länder, die wenig zum Klimawandel beigetragen haben, aber stark unter dessen Folgen leiden.
In der EU können bestehende asyl- und migrationspolitische Instrumente so ausgestaltet werden, dass sie auf klimawandelinduzierte Migration anwendbar sind. Dies gilt etwa für die 2022 erstmals aktivierte EU-Richtlinie zur Gewährung vorübergehenden Schutzes (Massenzustrom-Richtlinie), die Umsetzung von Resettlement-Programmen und die Vergabe humanitärer Visa. Vor allem jedoch können auf EU-Ebene Programme der Entwicklungszusammenarbeit genutzt werden, um in betroffenen Ländern und Regionen die Anpassung an den Klimawandel zu fördern und Staaten mit starker Binnenmigration zu unterstützen. Unabhängig von der europäischen Debatte sollte Deutschland hier eine Vorreiterrolle übernehmen und innovative neue Instrumente entwickeln (vgl. auch Kernbotschaft 8). Solche Initiativen können in einer ‚Koalition der Willigen‘ mit anderen Staaten abgestimmt werden und damit eine Signalwirkung entfalten. So könnten sie langfristig auch auf der europäischen und globalen Ebene implementiert werden.
Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. B.3.
8. Deutschland als Vorreiter: drei migrationspolitische Instrumente
Der Klimawandel erfordert schnelle und unmittelbare Reaktionen. Solche sind in einem ersten Schritt am ehesten von nationalen Regierungen zu erwarten. Um effektiv handeln zu können, schlägt der SVR den politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern in Deutschland eine Kombination aus drei Instrumenten vor: Klima-Pass, Klima-Card und Klima-Arbeitsvisum.
Der Klima-Pass ist das aufenthaltsrechtlich robusteste der drei Instrumente. In Anlehnung an einen entsprechenden Vorschlag des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen empfiehlt der SVR die Vergabe eines solchen Passes an einen eindeutig und eng definierten Personenkreis: Staatsangehörige von Ländern, die direkt vom Klimawandel betroffen sind und durch diesen ihr gesamtes Territorium verlieren (z. B. untergehende Pazifikinseln), sollen ein humanitäres Daueraufenthaltsrecht in Deutschland erhalten können. Mit einem Klima-Pass würde Deutschland als Industrieland Mitverantwortung für den Klimawandel übernehmen und könnte sich hierbei mit anderen Industriestaaten abstimmen.
Die Klima-Card richtet sich an Menschen aus Ländern, die vom Klimawandel erheblich betroffen, aber nicht in ihrer Existenz bedroht sind. Sie soll ihnen ermöglichen, zunächst befristet nach Deutschland zu kommen. Der Kreis anspruchsberechtigter Personen wäre hier deutlich größer als beim Klima-Pass; das erfordert eine länderspezifische Kontingentierung. Dadurch kann die über die Klima-Card erfolgende Zuwanderung planbar gestaltet werden, ähnlich wie bei humanitären Aufnahmeprogrammen. Die Auswahl der Länder liegt im Verantwortungsbereich des Aufnahmelands, hier der deutschen Bundesregierung. Das Instrument der Klima-Card muss mit Anpassungsmaßnahmen in den jeweiligen Herkunftsländern kombiniert werden, damit es effektiv wirken kann und eine Rückkehr der betroffenen Personen möglich wird.
Das Klima-Arbeitsvisum richtet sich an Personen aus Ländern, die vom Klimawandel in deutlich geringerem Ausmaß betroffen sind als bei den ersten beiden Instrumenten. Mit diesem Instrument der Erwerbsmigration könnte ein neuer Weg beschritten werden: Staats- angehörigen bestimmter Staaten wird der Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erleichtert, um ihnen durch eine reguläre Migration neue Einkommensquellen und Perspektiven zu eröffnen. Der Aufenthaltstitel ist an das Vorliegen eines Arbeitsvertrags gekoppelt. Bestimmte Qualifikationen oder Sprachkenntnisse müssen dafür nicht nachgewiesen werden. Als Vorbild könnte hier die sog. Westbalkan-Regelung dienen, die seit 2015 im deutschen Recht verankert ist.
Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. B.4.
9. Migrationspolitik als Baustein einer Gesamtstrategie zur Eindämmung des Klimawandels und seiner Folgen nutzen
Die Eindämmung des Klimawandels und seiner Folgen erfordert eine Gesamtstrategie; die Empfehlung des SVR, Maßnahmen aus dem gesamten Spektrum der Migrationspolitik zu nutzen, ist als ein Baustein darin zu verstehen. Zu dieser Gesamtstrategie gehört vor allem eine konsequente Klimapolitik. Das umfasst auch eine kohärente Klimaaußenpolitik, die migrationspolitische Aspekte einschließt und von allen relevanten Ressorts getragen wird. Darüber hinaus müssen finanzwirtschaftliche Einigungen gefunden werden, z. B. globale Fonds. Ebenso müssen ein globales Risikomanagement auf- und ausgebaut sowie entwicklungspolitische Ansätze entwickelt und umgesetzt werden, um Anpassungsmaßnahmen vor Ort zu fördern. Die Kosten für diese Maßnahmen sind weltweit fair zu verteilen. Ein kohärenter Gesamtansatz erfordert deshalb, dass das Handeln im Hinblick auf den Klimawandel wie auch klimawandelbedingte Migration auf nationaler Ebene ressortübergreifend abgestimmt wird. Aber auch auf EU- und internationaler Ebene müssen die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Politikfeldern stärker als bisher in den Blick genommen werden.
Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. B.1.2.
Publikationen
Die neun Kernbotschaften zum Jahresgutachten 2023
Das Factsheet zum Jahresgutachten 2023
Das Factsheet zum Jahresgutachten 2023
Expertise von Prof. Dr. Frank Dietrich
Expertise von Dr. Lisa Thalheimer
Expertise von Rainer Ohliger
Expertise von Diogo Andreola Serraglio und Dr. Benjamin Schraven
SVR Annual Report Summary 2023