Jahresgutachten 2022

Ein funktionierendes Gesundheitssystem ist maßgeblich für das Wohlergehen einer Gesellschaft. Im Jahresgutachten 2022 stellt der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) fest, dass Fachkräfte mit Zuwanderungsgeschichte einen unverzichtbaren Beitrag zum deutschen Gesundheitssystem leisten. Um die Versorgung auch künftig zu gewährleisten, sieht er Nachbesserungsbedarf bei der Anerkennung ausländischer Qualifikationen und der Nachqualifizierung. Prozesse müssen vereinfacht, beteiligte Behörden stärker verzahnt und die Zuwanderung in die Ausbildung mehr gefördert werden. Auch vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie mahnt der SVR zudem an, die Arbeitsbedingungen grundlegend zu verbessern. Um eine chancengleiche und herkunftsunabhängige Gesundheitsversorgung sicherzustellen gilt es, das Gesundheitswesen diversitätssensibler zu gestalten.

Publikationen

Jahresgutachten 2022. Systemrelevant: Migration als Stütze und Herausforderung für die Gesundheitsversorgung in Deutschland (barrierefrei)

Die 9 Kernbotschaften des Jahresgutachtens 2022

Das Factsheet zum Jahresgutachten 2022

Presseinformation | Systemrelevant: Der Beitrag von Zugewanderten im Gesundheitswesen

💡  Zahlen und Fakten in Grafiken (Link bewirkt Weiterleitung zum Seitenende)

Videos

Videostatement der SVR-Vorsitzenden Prof. Petra Bendel zur Veröffentlichung des Jahresgutachtens 2022

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Videostatement des Stellv. SVR-Vorsitzenden Prof. Daniel Thym zu einer diversitätssensiblen Gesundheitsversorgung

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Weitere Informationen

Kernbotschaft 1: Fachkräfte mit Zuwanderungsgeschichte leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Gesundheitsversorgung

Die gesundheitliche und pflegerische Versorgung in Deutschland wird – sofern sie nicht in der Familie geleistet wird – zu einem erheblichen Teil von Menschen getragen, die entweder selbst zugewandert sind oder aus einer Familie mit Zuwanderungsgeschichte stammen. Von den über vier Millionen Menschen in Gesundheits- und Pflegeberufen hatte im Jahr 2019 fast ein Viertel einen Migrationshintergrund. Dazu gehören zum Beispiel Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte. Rund vier von fünf aller Erwerbstätigen in diesen Berufen sind Frauen.

Besonders hoch ist der Anteil von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in der Altenpflege: Drei von zehn hier Tätigen haben einen Migrationshintergrund; sie stammen besonders häufig aus Ost- und Südosteuropa. Auch unter den in Deutschland praktizierenden Ärztinnen und Ärzten finden sich überdurchschnittlich viele Menschen mit Migrationsgeschichte: Mehr als ein Viertel ist selbst zugewandert oder hat zugewanderte Eltern; rund 14 Prozent sind Ausländerinnen und Ausländer. Die wichtigsten Herkunftsländer sind Syrien und Rumänien. Ausländische Ärztinnen und Ärzte arbeiten häufiger als ihre deutschen Kolleginnen und Kollegen in Kliniken und in eher ländlichen Regionen. In den ostdeutschen Flächenländern beträgt ihr Anteil an der Ärzteschaft insgesamt 15 Prozent, damit ist er rund dreimal so hoch wie der Ausländeranteil in der dortigen Bevölkerung. Umgekehrt arbeitet von den in Deutschland ausgebildeten Ärztinnen und Ärzten ebenfalls ein gewisser Teil im Ausland, etwa in der Schweiz.

In den letzten Jahren sind immer mehr im Ausland ausgebildete Gesundheits- und Pflegefachkräfte nach Deutschland gezogen. Die Zahl der zugewanderten Ausländerinnen und Ausländer, die im Gesundheitswesen arbeiten, hat sich zwischen 2013 und 2019 fast verdoppelt. Zudem gibt es immer mehr Fachkräfte mit Migrationshintergrund, die in Deutschland geboren sind und das deutsche Ausbildungssystem durchlaufen haben.

Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. A.2.

Kernbotschaft 2: Anerkennungsverfahren beschleunigen und Nachqualifizierung erleichtern

Angesichts des erheblichen Fachkräftemangels wurden in den letzten Jahren die rechtlichen Möglichkeiten der Einwanderung für Fachkräfte deutlich erweitert. Das gilt auch und gerade für Fachkräfte in den Gesundheitsberufen. Um in Deutschland arbeiten zu dürfen, müssen sie aber nachweisen, dass ihre Qualifikation deutschen Standards entspricht, und ggf. fehlende Ausbildungsinhalte nachholen. Entscheidend für den Erfolg von Anwerbestrategien ist deshalb, wie die entsprechenden Verfahren in der Praxis umgesetzt werden.

Zuständig für die Anerkennungsverfahren sind überwiegend die Bundesländer. Um die Verfahren effizienter und transparenter zu machen, sollten sie die Prozesse möglichst weiter vereinfachen, einheitlich gestalten und die beteiligten Behörden stärker verzahnen. Zudem müssen die verschiedenen am Zuwanderungsprozess beteiligten Stellen – u. a. deutsche Konsulate im Ausland, Ausländerbehörden, Anerkennungsbehörden und auch die Bundesagentur für Arbeit – besser zusammenarbeiten. Zuwanderung muss als ein Gesamtprozess verstanden werden, bei dem die einzelnen Schritte wirksam ineinandergreifen. Der SVR schlägt zudem vor, in einer zentralen Anerkennungsstelle pro Bundesland Kompetenzen zu bündeln und die Potenziale einer stärker digitalisierten Verwaltung auszuschöpfen. Eine arbeitsteilige Organisation zwischen den Ländern könnte den Aufbau von Expertise erleichtern (z. B. in Bezug auf bestimmte Herkunftsländer oder Berufsgruppen) und die Verfahren beschleunigen. Zudem benötigen die beteiligten Behörden deutlich mehr Personal, damit Anträge schneller bearbeitet werden können.

Wenn Antragstellende für die Anerkennung ihrer Qualifikation Ausbildungsinhalte nachholen müssen, sollte dies zeitnah möglich sein. Deshalb empfiehlt der SVR, modularisierte Anpassungslehrgänge auszubauen und die bestehenden Angebote sowohl innerhalb der jeweiligen Bundesländer als auch zwischen benachbarten Ländern besser zu koordinieren. Die Lehrgänge sollten fachliche Inhalte stets mit einer (fach-)sprachlichen Komponente verbinden, da Sprachkenntnisse sowohl für den Erfolg der Maßnahme als auch für den Arbeitsalltag unabdingbar sind und die betriebliche Integration erheblich erleichtern. Die Kapazitäten für Kenntnis- bzw. Eignungsprüfungen sollten so weit erhöht werden, dass Antragstellende nicht länger als sechs Monate auf einen Prüfungstermin warten müssen.

Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. A.1.2 und A.1.3.

Kernbotschaft 3: Zuwanderung in die Ausbildung gezielt fördern; Ausbildung im Inland stärken

Neben der Rekrutierung von (bereits fertig ausgebildeten) Gesundheits- und Pflegefachkräften empfiehlt der SVR, im Ausland stärker als bisher für eine entsprechende Ausbildung in Deutschland zu werben. Wenn Zugewanderte ihre Ausbildung vollständig in Deutschland durchlaufen, entfallen langwierige Anerkennungsverfahren. Der Kontakt zu anderen Auszubildenden bzw. Studierenden erleichtert zudem den Spracherwerb und die soziale Integration. Auch können Transferprobleme vermieden werden, die sich ergeben, wenn Berufsbilder und Ausbildungsinhalte sich zwischen Ziel- und Herkunftsland unterscheiden. Dies erleichtert wiederum die betriebliche Integration. Wenn statt voll ausgebildeter Fachkräfte Auszubildende angeworben werden, vermeidet das zudem einen Braindrain aus den Herkunftsländern. Eine erfolgreiche Umsetzung setzt voraus, dass Interessierte im Vorfeld umfassend aufgeklärt werden: über die Ausbildungsinhalte und das betreffende Berufsbild ebenso wie über das Leben und Arbeiten in Deutschland. Nur so können sie realistische Vorstellungen und Erwartungen entwickeln.

Um dem Fachkräftemangel im Gesundheitswesen nachhaltig begegnen zu können, empfiehlt der SVR zudem, den Blick nicht nur ins Ausland zu richten: Man sollte auch Personen berücksichtigen, die bereits in Deutschland leben. Neben Schulabgängerinnen und Schulabgängern sind das z. B. auch Zugewanderte, die entweder noch keine Ausbildung absolviert haben oder deren Qualifikation oder Berufserfahrung aus dem Herkunftsland noch nicht anerkannt wurde. Personen, die auf Helferniveau in der Pflege arbeiten oder eine Helferausbildung absolvieren, sollten ermuntert werden, sich zur Fachkraft weiterzuqualifizieren. Um die hohen Abbruchquoten vor allem in der Pflegeausbildung zu senken, müssen sich zudem die Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen grundlegend verbessern (s. hierzu auch Kernbotschaft 4).

Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. A.1.3 und A.2.4.

Kernbotschaft 4: Fachkräfte halten: betriebliche Integration fördern, Arbeitsbedingungen verbessern

Aus dem Ausland angeworbene Fachkräfte müssen erhebliche Anpassungs- und Transferleistungen erbringen, um ihr Wissen und ihre beruflichen Erfahrungen auf das neue Arbeitsumfeld zu übertragen. Damit sie die an sie gerichteten Erwartungen erfüllen können und auch längerfristig in Deutschland bleiben wollen, sollten sie vor allem in der Einarbeitungsphase angemessen unterstützt werden. Eine Herausforderung sind neben der Sprache oft auch Unterschiede im Arbeitsalltag und im beruflichen Rollenverständnis. Wenn Unternehmen Mitarbeitende aus dem Ausland rekrutieren wollen, sollten sie sich daher im eigenen Interesse auf deren Ankunft vorbereiten, ein Integrationskonzept entwickeln und Ansprechpersonen benennen, die den Zuwandernden zur Seite stehen. Auch die bestehende Belegschaft muss frühzeitig einbezogen werden. Eine berufliche Einarbeitung erfordert Zeit und bedeutet damit zunächst eine Mehrbelastung. Dafür sind genügend personelle Ressourcen nötig.

Ein besonders wichtiger Bereich ist Sprachförderung. Die Arbeit mit Patientinnen und Patienten sowie in multiprofessionellen Teams erfordert ein hohes Maß an Kommunikationsfähigkeit. Schon bei der Anwerbung sollte deshalb genug Zeit für eine gründliche, berufsbezogene sprachliche Vorbereitung eingeplant werden. Neben der fachlichen Einarbeitung sollte auch die persönliche und familiäre Komponente mitgedacht werden. Hier sollten neue Mitarbeitende ebenfalls möglichst umfassend informiert und beraten werden, etwa bezüglich der Suche nach Wohnraum, einer Kinderbetreuung und Arbeitsmöglichkeiten für mitziehende Angehörige, aber auch bei Fragen zur örtlichen Infrastruktur, etwa dem öffentlichen Nahverkehr. Um Angebote für Fachkräfte und ihre Familien zu machen, können Unternehmen mit lokalen Institutionen beispielsweise in der Kommune zusammenarbeiten. Dies gilt umso mehr in strukturschwachen Regionen.

Um Fachkräfte langfristig zu halten, ist es zudem nach Ansicht des SVR unabdingbar, die Arbeitsbedingungen im Gesundheitssektor und besonders in der Pflege grundlegend zu verbessern. Denn Zuwanderung allein kann den strukturellen Fachkräftemangel im Gesundheitswesen nicht lösen.

Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. A.1.4.

Kernbotschaft 5: Migration von Gesundheitsfachkräften fair und transparent gestalten

Einwanderung in den Gesundheitssektor ist kein deutsches oder europäisches Phänomen: In den OECD-Staaten insgesamt sind rund ein Viertel aller Ärztinnen und Ärzte und rund ein Sechstel der Pflegekräfte nicht in dem Land geboren, in dem sie aktuell arbeiten. Mobile Fachkräfte erzielen im Ausland oft ein höheres Einkommen und haben dort bessere Arbeitsbedingungen oder Karriereperspektiven. Die Herkunftsländer können dabei einerseits von Rücküberweisungen profitieren oder im Fall einer Rückkehr von dem erworbenen Wissen. Andererseits kann die Abwanderung entsprechender Fachkräfte die gesundheitliche Versorgung und damit die Lebensverhältnisse im Herkunftsland beeinträchtigen.

Um solchen negativen Effekten entgegenzuwirken, sollten Fachkräfte im Gesundheitswesen nur in solchen Ländern aktiv rekrutiert werden, wo es ein Überangebot gibt. Zudem sollten bilaterale Vereinbarungen sicherstellen, dass von der Migration beide Seiten profitieren. Besonders zu befürworten sind Ausbildungspartnerschaften, die den Kapazitätsaufbau auch im Herkunftsland fördern.

Solche bilateralen Vereinbarungen können außerdem das Migrationsrisiko für die Fachkräfte minimieren, wenn diese umfassend über ihre Rechte und Pflichten informiert werden und z. B. klar festgelegt wird, welchen Teil der anfallenden Kosten das Zielland oder der zukünftige Arbeitgeber bzw. die Arbeitgeberin übernimmt. Über staatliche Programme reisen heute schon Fachkräfte nach Deutschland. Die Mehrheit wird allerdings direkt von Unternehmen angeworben, kommt über private Vermittlungsagenturen oder organisiert die Einreise selbst. Das kann riskant sein – zum Beispiel können Unternehmen oder Fachkräfte an eine unseriös arbeitende Agentur geraten. Das Gütesiegel „Faire Anwerbung Pflege Deutschland“ will hier mehr Transparenz schaffen, es sollte deshalb evaluiert werden. Der SVR hält es für unabdingbar, in Anwerbeprozessen bestmögliche Transparenz sicherzustellen, die Anzuwerbenden vorab umfassend aufzuklären und sie bei den behördlichen Prozessen zu unterstützen.

Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. A.1.3 und A.1.5.

Kernbotschaft 6: Versorgung durch ausländische Betreuungskräfte rechtssicher und fair umsetzen

Viele ältere Menschen würden gern ihren Lebensabend zu Hause verbringen, auch wenn sie die alltäglichen Aufgaben nicht mehr allein bewältigen können. Das Modell der live-in care (das oft unter dem irreführenden Begriff „24-Stunden-Pflege“ vermarktet wird) macht dies möglich: Betreuungskräfte, die meist aus Osteuropa stammen, leben im Haushalt der betreffenden Person und unterstützen sie in ihrem Alltag.

Für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen hat dieses Modell Vorteile. So ist die Betreuung eher finanzierbar, und die Unterstützung der pflegebedürftigen Angehörigen lässt sich besser mit eigener Berufstätigkeit vereinbaren. Den Betreuungskräften wiederum eröffnet es eine Möglichkeit der Erwerbsmigration, für die sie meist weder Qualifikationen noch Sprachkenntnisse nachweisen müssen. Viele dieser Beschäftigungsverhältnisse bewegen sich jedoch rechtlich in einer Grauzone. Geltende Gesetze werden oft nicht eingehalten, besonders die Regelungen zu Arbeitszeit und Mindestlohn.

Der SVR empfiehlt deshalb, die Beteiligten gezielt über die bestehende Rechtslage aufzuklären. Um Betreuungskräfte vor Überlastung und Ausbeutung zu schützen und die Erwartungen der zu pflegenden Person und ihrer Angehörigen realistisch zu halten, ist ein klares Tätigkeitsprofil maßgeblich. Zudem sollte grundsätzlich keine ‚24-Stunden-Betreuung‘ durch eine einzige Person vereinbart werden; eine solche ist in Deutschland nicht legal. Vielmehr sollten Betreuungskräfte nur bei einem moderaten alltäglichen Unterstützungsbedarf oder ergänzend zum Einsatz kommen, etwa in gemischten Pflegearrangements aus ambulanten Diensten, Angehörigenpflege und weiterer Unterstützung. Wenn die Betreuung 40 Wochenstunden deutlich übersteigt, könnten zwei oder drei Betreuungskräfte zeitgleich angestellt werden, die sich die Arbeit nach Absprache teilen. Bei legaler Anstellung und einer angemessenen Bezahlung ist dies jedoch nur eine Option für wohlhabende Familien.

Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. A.3.

Kernbotschaft 7: Gesundheit hängt vor allem mit der sozialen Lage zusammen und weniger mit einer Zuwanderungsgeschichte

Die gesundheitliche Lage eines Menschen wird – neben biologischen und ökologischen Faktoren – maßgeblich von der Schichtzugehörigkeit, dem Bildungsstand, den Arbeitsbedingungen und den Wohnverhältnissen bestimmt und nicht primär von der ethnischen Herkunft. Eine Migrationsgeschichte kann allerdings insofern ein Faktor für ungleiche

Gesundheitschancen sein, als das Merkmal „Migrationshintergrund“ statistisch gesehen immer noch häufiger mit einer ungünstigen sozioökonomischen Lage zusammenfällt. Außerdem kann eine chancengleiche Nutzung von Gesundheits- und Pflegediensten durch weitere Faktoren erschwert werden, die häufig eng mit einer Migration verbunden sind. So haben neu Zugewanderte zum Teil – wenn auch meist befristet – rechtlich nur einen eingeschränkten Zugang zu öffentlich finanzierten Gesundheitsleistungen. Auch Sprachbarrieren oder Diskriminierung können den Zugang zum Gesundheitssystem behindern. Neben den Einflussfaktoren im Zielland spielen bei Zugewanderten zudem Risiko- und Schutzfaktoren im Herkunftsland und im jeweiligen Migrationsprozess eine Rolle.

Menschen mit Migrationshintergrund sind eine heterogene Gruppe. Generelle Aussagen zur gesundheitlichen Lage dieser Bevölkerungsgruppe sind deshalb nicht möglich. Dies gilt umso mehr, als die Datenlage erhebliche Lücken aufweist. Einige wenige Befunde zeichnen sich aber dennoch ab. Der eine ist das „Phänomen des gesunden Migranten“: Neu Zugewanderte haben oft zunächst eine bessere Gesundheit bzw. eine niedrigere Sterblichkeit. Dies hängt u. a. damit zusammen, dass Menschen, die migrieren, in der Regel physisch und psychisch eher gesund sind. Dieser Vorteil geht im Zielland jedoch meist nach einiger Zeit verloren; dafür können u. a. die langfristigen Auswirkungen sozioökonomischer Benachteiligung verantwortlich gemacht werden. Bei genauer Betrachtung zeigen sich auch innerhalb von Teilgruppen Unterschiede. So haben Flüchtlinge zwar wegen der jungen Altersstruktur häufig eine gute physische Gesundheit, können aber aufgrund traumatischer Erlebnisse im Herkunftsland oder auf der Flucht unter psychischen Problemen leiden.

Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. B.1, B.2.1 und B.3.

Kernbotschaft 8: Der rechtliche Zugang zu Gesundheitsleistungen ist für Zugewanderte grundsätzlich gut; es bestehen aber Versorgungslücken

Die meisten Menschen, die ohne deutschen Pass in Deutschland leben, sind heute im Krankheitsfall gut abgesichert. Rechtlich eingeschränkt ist der Zugang zu öffentlich finanzierten Gesundheitsleistungen bzw. zum Krankenversicherungssystem allerdings für bestimmte Teilgruppen: Asylsuchende und ausreisepflichtige Personen, die noch keine 18 Monate in Deutschland sind, und Personen, die sich irregulär im Land aufhalten. In Ausnahmefällen gilt das außerdem für EU-Bürgerinnen und EU-Bürger, die ihr materielles Freizügigkeitsrecht verloren haben.

Die Quote der aktenkundig nicht krankenversicherten Personen liegt in Deutschland insgesamt bei weniger als 0,1 Prozent der Bevölkerung. In der Teilgruppe mit Migrationshintergrund sind es knapp 0,2 Prozent und bei Personen ohne deutschen Pass knapp 0,3 Prozent. Die allermeisten Menschen mit wie ohne Migrationshintergrund sind Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung. Wenn Zugewanderte in Deutschland im Krankheitsfall unzureichend abgesichert sind, liegt das meist nicht an fehlenden rechtlichen Ansprüchen oder an Defiziten in der Rechtslage. Vielmehr sind die Betroffenen häufig nicht imstande, die für ihre Absicherung erforderliche Bürokratie allein zu bewältigen, z. B. aufgrund ihrer Lebensumstände und/oder der (wahrgenommenen) Komplexität der für sie geltenden Regelungen. Hier müsste es entsprechende Beratungs- und Hilfsangebote geben, die in der Fläche verfügbar und möglichst niedrigschwellig zugänglich sind. Dies wäre ein wichtiger Grundstein für ein diversitätssensibles Gesundheitssystem. Länder und Kommunen sollten deshalb nach Ansicht des SVR prüfen, wie das Modell der Clearingstellen zur Krankenversicherung in der Fläche ausgebaut werden kann.

Besonders prekär ist in Deutschland die Situation von irregulär aufhältigen Migrantinnen und Migranten. Ihnen stehen zwar Gesundheitsleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu. In der Praxis können sie diese aber kaum nutzen, ohne gleichzeitig eine Ausweisung befürchten zu müssen. Der SVR empfiehlt dem Gesetzgeber, durch eine Änderung von § 87 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz klarzustellen, dass der Gesundheitsbereich (auch jenseits medizinischer Notfälle) von der Übermittlungspflicht gegenüber Ausländerbehörden ausgenommen ist. Zudem sollten einheitliche Vorgaben für die Bedürftigkeitsprüfung entwickelt werden, von der die Kostenerstattung durch die Sozialämter abhängt.

Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. B.2.

Kernbotschaft 9: Diversitätssensible Gesundheitsversorgung kommt allen zugute

Wie Menschen Gesundheitsdienste nutzen und wie zufrieden sie damit sind, ist abhängig von vielen individuellen Faktoren und ihrer Wechselwirkung wie auch von strukturellen Rahmenbedingungen der Gesundheitsversorgung. Deshalb greift der Blick auf den Migrationshintergrund allein generell zu kurz, um zu verstehen, was den Zugang zu Gesundheitsangeboten oder deren Wirksamkeit behindert. Einige Herausforderungen sind zwar eng mit Migration verbunden; dazu gehören besonders Sprach- und Kommunikationsbarrieren, Diskriminierung und fehlendes Orientierungswissen in Bezug auf die Strukturen der Gesundheitsversorgung in Deutschland. Doch selbst diese Herausforderungen treffen weder alle Zugewanderten automatisch, noch beschränken sie sich auf Zugewanderte Exklusiv migrationsspezifische Bedarfe sind in der Gesundheitsversorgung also – jenseits einer erforderlichen Sprachmittlung bei fehlenden Deutschkenntnissen – kaum sinnvoll auszumachen. Um die gesundheitliche Chancengleichheit von Menschen mit Migrationshintergrund zu stärken, müssen daher vor allem die gesundheitlichen Regeldienste diversitätssensibel ausgerichtet werden. Davon würden alle Menschen profitieren. Spezielle Angebote für Migranten und Migrantinnen können zwar in einzelnen Versorgungsbereichen als Ergänzung zur Regelversorgung sinnvoll sein. Sie dürfen dabei jedoch ihren komplementären Charakter nicht verlieren. Auch die Gesundheitskommunikation ist grundsätzlich diversitätssensibel zu gestalten. Trotzdem kann es zusätzlich auch hier sinnvoll sein, konkrete Untergruppen (seien sie migrantisch geprägt oder nicht) gezielt anzusprechen.

Die Diskussion darüber, wie eine diversitätssensible Gesundheitsversorgung konkret umgesetzt werden kann, steht in Deutschland noch am Anfang. Sicher ist jedoch: Sie braucht Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, auf die besonderen Bedarfe der Patientinnen und Patienten einzugehen – ob ein höherer Bedarf an Zeit oder personeller Betreuung nun z. B. durch eine körperliche oder geistige Behinderung entsteht, durch Sprachbarrieren, Unsicherheit bzw. einen höheren Auf- klärungsbedarf der betreffenden Person, durch einen wertbezogenen Klärungsbedarf in Bezug auf Behandlungsoptionen oder etwas ganz anderes. Dem steht der große Zeit- und Effizienzdruck im Gesundheitswesen entgegen. Der SVR empfiehlt eine verstärkte Förderung von Evaluationsstudien, die die Wirksamkeit, Anforderungen und Herausforderungen von Ansätzen diversitätssensibler Versorgung im stationären und im ambulanten Bereich erproben.

Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. B.3.

Zahlen und Fakten in Grafiken

Immer mehr Menschen stellen in Deutschland einen Antrag auf Anerkennung ihrer aus dem Ausland mitgebrachten Qualifikation. Im Jahr 2020 wurden insgesamt über 23.000 Anträge auf Anerkennung in einem medizinischen Gesundheitsberuf gestellt. Mehr als die Hälfte der Anträge – fast 13.000 – bezog sich auf den Referenzberuf der Gesundheits- und Krankenpflegerin bzw. des Gesundheits- und Krankenpflegers. Von 2015 bis 2019 ist die Zahl der Anträge auf Anerkennung von Gesundheits- und Krankenpflegefachkräften um das Zweieinhalbfache gestiegen: von knapp 6.000 auf fast 15.000 Anträge im Jahr. Der Beruf, für den am zweithäufigsten eine Anerkennung beantragt wurde, ist der des Arztes bzw. der Ärztin. Dafür wurden 2020 rund 5.700 Anträge gestellt (im Vorjahr waren es rund 6.500). Diese Zahlen geben einen Hinweis darauf, wie viele Fachkräfte zuwandern.


Fachkräfte mit Migrationshintergrund leisten einen essentiellen Beitrag zur Gesundheitsversorgung in Deutschland. Fast ein Viertel (22,5%) aller hier Erwerbstätigen hatte laut Mikrozensus 2019 eine eigene oder familiäre Einwanderungsgeschichte. Das sind rund 940.000 von insgesamt 4,2 Mio. Menschen. Besonders hoch ist der Anteil in der Altenpflege: Hier hat rund ein Drittel (30,1 %) einen Migrationshintergrund. Bei den Ärztinnen und Ärzten ist es mehr als ein Viertel (27,3 %). Ein Großteil der Erwerbstätigen mit Migrationshintergrund ist selbst zugewandert.


Rund zwei Drittel der Erwerbstätigen mit Migrationshintergrund in den Gesundheits- und Pflegeberufen stammen aus Europa, insbesondere aus Osteuropa. Die wichtigsten Herkunftsländer sind Polen, die Türkei, die Russische Föderation, Kasachstan und Rumänien. Gemessen an der Gesamtgruppe aller Erwerbstätigen in Deutschland sind Menschen aus den EU15-Staaten in den Gesundheitsberufen etwas unter- und Menschen aus den östlichen EU-Staaten und Asien leicht überrepräsentiert. Besonders in der Pflege arbeiten überdurchschnittlich viele Menschen aus den östlichen EU-Staaten. Ärztinnen und Ärzte stammen überdurchschnittlich häufig aus Osteuropa sowie dem Nahen und Mittleren Osten. Als Arzt- und Praxishilfen arbeiten besonders viele in Deutschland geborene Menschen mit Wurzeln in der Türkei sowie Personen aus Kasachstan.


Die Zahl der Erwerbstätigen mit Migrationshintergrund in den Gesundheits- und Pflegeberufen hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Der Anteil der Pflegekräfte mit Migrationshintergrund ist zwischen 2013 und 2019 in der Gesundheits- und Krankenpflege um rund 5 Prozentpunkte gestiegen und in der Altenpflege um 6 Prozentpunkte. Dies entspricht im Wesentlichen der Entwicklung bei den Erwerbstätigen insgesamt. Auffällig ist jedoch: In der Gesundheits- und Krankenpflege hat sich die Zahl der selbst zugewanderten Ausländerinnen und Ausländer in sechs Jahren verdoppelt; in der Altenpflege ist sie sogar um 120 Prozent gestiegen. Dabei waren in der Altenpflege schon vor sechs Jahren überdurchschnittlich viele Zugewanderte beschäftigt. Angesichts der für diesen Sektor aus guten Gründen besonders hohen Zugangshürden ist das ein beachtlicher Zuwachs.


Ein zentraler Indikator zur Untersuchung von Gesundheit ist die Lebenserwartung. Nach den Daten der amtlichen Statistik – die nur eine Unterscheidung nach Staatsangehörigkeit zulässt – haben Personen ohne deutschen Pass eine höhere Lebenserwartung als deutsche Staatsangehörige. In beiden Bevölkerungsgruppen haben Frauen eine höhere Lebenserwartung als Männer. Eine höhere Lebenserwartung wird oft intuitiv gleichgesetzt mit einer besseren Gesundheit. Diese Annahme kann aber trügen. Die (wenigen) verfügbaren Daten zeigen beispielsweise, dass türkische Migrantinnen und Migranten in Deutschland zwar eine höhere Lebenserwartung haben, jedoch weniger von dieser Zeit in guter Gesundheit verbringen. Nach einer Berechnung für 2005/06 hatten in Deutschland lebende Männer mit türkischer Staatsangehörigkeit im Alter von 50 Jahren eine ferne Lebenserwartung von durchschnittlich 26,2 Jahren; davon verbrachten sie 4,8 Jahre (18 %) mit gesundheitlichen Einschränkungen. Deutsche Männer dieses Alters verbrachten von den erwartbaren 24,9 Jahren nur 2,7 (11 %) mit solchen Einschränkungen. Bei den Frauen mit türkischer Staatsangehörigkeit war die Differenz zu deutschen Frauen noch größer (20 % vs. 10 %).


Zentrale sozioökonomische Faktoren für Gesundheit sind das Bildungsniveau, das Einkommen, die Arbeitsbedingungen und das Wohnumfeld. Diese Faktoren sind eng miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. Dass die wirtschaftliche Situation von Menschen deren Gesundheit beeinflusst, hat die Forschung immer wieder belegt. Hierfür gibt es vor allem drei Erklärungsansätze: materielle Nachteile, psychosoziale Belastungen und das Gesundheitsverhalten. Auch Berufe mit hoher Belastung oder Gefährdung wie etwa schwerer körperlicher Arbeit, Lärm, Arbeit mit Giftstoffen, Akkord- und Schichtarbeit sowie prekäre Beschäftigung beeinträchtigen die Gesundheit, ebenso wie Arbeitslosigkeit. Ergebnisse des Sozio-Oekonomischen Panels (SOEP) verdeutlichen diesen Zusammenhang: Arbeitslose Personen und Personen, die im Niedriglohnsektor arbeiten, bewerten ihre Gesundheit tendenziell schlechter als Erwerbstätige insgesamt. Dieses Muster zeigt sich unabhängig von einer Zuwanderungsgeschichte. Allerdings sind Menschen mit Migrationshintergrund im Durchschnitt häufiger erwerbslos bzw. in prekärer Beschäftigung.


Das Bildungsniveau ist eine weitere zentrale Determinante für die Gesundheit – dies gilt für Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Es zeigt sich immer wieder, dass Bildung und Gesundheit positiv korrelieren; das heißt, dass mit einem höheren Bildungsniveau eine bessere Gesundheit einhergeht. Hier ist vor allem entscheidend, dass Bildung ein wichtiger Faktor für andere soziale Determinanten von Gesundheit ist, etwa Einkommen, Arbeitsbedingungen und Gesundheitsverhalten. Auch dieser Zusammenhang lässt sich in den Daten des SOEP für alle betrachteten Bevölkerungsgruppen mit Ausnahme der Flüchtlinge erkennen: Während von den Befragten mit eigener Migrationserfahrung und einem niedrigen Bildungsniveau rund 30 Prozent ihre Gesundheit als „weniger gut“ oder „schlecht“ einschätzen, sind es bei denen mit hoher Bildung nur rund 13 Prozent. Menschen mit Migrationshintergrund haben somit aufgrund ihres im Durchschnitt geringeren Bildungsniveaus ein höheres Risiko für eine schlechte Gesundheit.


Die meisten Menschen, die ohne deutschen Pass in Deutschland leben, haben heute die gleichen Ansprüche auf Gesundheitsleistungen wie deutsche Staatsangehörige. Das vorherrschende Versicherungsmodell ist die Mitgliedschaft in einer gesetzlichen Krankenversicherung, und zwar bei Menschen mit wie ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Allerdings liegt die Quote der privat Versicherten bei Menschen ohne deutschen Pass mit 4,5 Prozent deutlich unter der von Deutschen ohne Migrationshintergrund (13,1 %). Dies hängt vor allem damit zusammen, dass Menschen mit Migrationshintergrund und besonders Ausländerinnen und Ausländer seltener verbeamtet sind. Zudem verdienen sie durchschnittlich seltener so viel, dass sie in die private Krankenversicherung wechseln könnten. Laut Mikrozensus haben insgesamt 61.000 Personen in Deutschland keinen Krankenversicherungsschutz, das sind weniger als 0,1 Prozent der Bevölkerung. Diese sehr kleine Gruppe umfasst überproportional viele Menschen mit Migrationshintergrund und besonders Menschen ohne deutschen Pass. Doch auch in diesen Bevölkerungsgruppen liegt der Anteil der nicht versicherten Personen laut Mikrozensus deutlich unter einem Prozent. Allerdings werden gerade jene Gruppen, die besonders häufig ohne Krankenversicherung sind (wie z. B. obdachlose Personen), im Mikrozensus nicht oder nur sehr unzureichend erfasst. Ebenfalls nicht erfasst sind Migrantinnen und Migranten, die sich irregulär in Deutschland aufhalten.

Über das SVR-Jahresgutachten

Der Sachverständigenrat veröffentlicht jeweils im Frühjahr sein jährliches Gutachten. Das Jahresgutachten liefert eine wissenschaftlich fundierte Analyse, wie sich die Integration im Sinne chancengleicher Teilhabe in zentralen gesellschaftlichen Bereichen (z. B. Arbeitsmarkt, Bildung) entwickelt und wo weiterhin Handlungsbedarf besteht. Im Themenfeld Migration werden insbesondere Entwicklungen der Zuwanderungssteuerung und Perspektiven der Migration auch im internationalen Vergleich untersucht. Auf der Grundlage wissenschaftlicher Analysen entwickelt das unabhängige Expertengremium Bewertungen und Handlungsempfehlungen in den Themenfeldern Integration und Migration. Hauptziele des Jahresgutachtens sind die kritische Politikberatung und -begleitung sowie die sachliche Information der Öffentlichkeit.

Vorjahre

Sämtliche Informationen zu den Jahresgutachten der Vorjahre (inkl. Expertisen und Grafiken) finden Sie hier: https://www.svr-migration.de/publikationen/

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