Veranstaltungen – Wissenschaftlicher Stab
Migrantenorganisationen als Partner von Politik und Zivilgesellschaft
Digitale Fachkonferenz am 1.12.2020
Migrantinnen- und Migrantenorganisationen und ihre Dachverbände sind in Deutschland wichtige zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure. Dennoch wurden sie politisch lange Zeit kaum beachtet oder zum Teil sogar mit Argwohn betrachtet. Auch die sozialwissenschaftliche Forschung hat sich nicht kontinuierlich für das Feld interessiert, das sich zugleich sehr dynamisch entwickelt hat. Die politische Einsicht, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, und der Kurswechsel hin zu einer aktiven Integrationspolitik haben auch den Fokus auf die früheren ‚Ausländervereine‘ verschoben: Der Blick richtet sich seitdem verstärkt auf die Potenziale der Migrantenorganisationen, ihr Expertenwissen und ihre mögliche Vermittlungsrolle bei der Verwirklichung gleichberechtigter Teilhabe Zugewanderter und ihrer Familien. Dennoch gibt es in Bezug auf die bundesweit über 10.000 aktiven und formalisierten Migrantenorganisationen nach wie vor erhebliche Wissenslücken.
Mit dem groß angelegten Forschungsprojekt „Migrantenorganisationen als Partner von Politik und Zivilgesellschaft“ verfolgte der SVR-Forschungsbereich deshalb das Ziel, die Landschaft der Migrantenorganisationen in Deutschland im Hinblick auf Aktivitätsfelder, Mitgliederstruktur und Funktionswahrnehmung in ihrer Vielfalt möglichst genau zu erfassen. Dafür wurde eine große standardisierte Befragung durchgeführt, an der sich 764 Migrantenorganisationen beteiligt haben. Weiterhin wurden 17 qualitative Interviews mit Vertreterinnen und Vertretern von Migrantenorganisationen geführt. Dabei wurde neben Struktur und Arbeitsweise auch das Selbstverständnis der Organisationen in den Blick genommen. Darüber hinaus wurden mit Unterstützung durch Prof. Dr. Karin Weiss 18 leitfadengestützte Interviews zur Förderung von Migrantenorganisationen auf Landesebene geführt. An dieser Teilerhebung beteiligten sich alle Bundesländer.
Die Ergebnisse des Forschungsprojekts präsentierte der SVR-Forschungsbereich am 1. Dezember 2020 auf einer digitalen Fachkonferenz. An der Veranstaltung nahmen rund 380 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Politik, Zivilgesellschaft, Verwaltung, Wohlfahrtsverbänden und Vereinen teil. Nach einer Begrüßung durch SVR-Geschäftsführerin Dr. Cornelia Schu und Dr. Markus Kerber, Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, das dieses Projekt gefördert hat, stellten Dr. Marie Mualem Sultan und Dr. Nils Friedrichs die wichtigsten Ergebnisse vor.
In der darauffolgenden Podiumsdiskussion, moderiert von Konstantina Vassiliou-Enz, Neue Deutsche Medienmacher, diskutierten Dr. Markus Kerber, Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, Dr. Deniz Nergiz, Geschäftsführerin Bundeszuwanderungs- und Integrationsrat e. V., Katarina Niewiedzial, Landesbeauftragte des Berliner Senats für Integration und Migration, Prof. Dr. Hacı Halil Uslucan, Wissenschaftlicher Direktor Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung und ehemaliges Mitglied des SVR, die verschiedenen Aspekte der Frage, was die Landschaft der Migrantenorganisationen in Deutschland bewegt und wie Fördermittelgebende das Verhältnis gestalten.
Dr. Kerber begrüßte, dass mit der Studie eine Übersicht über die Landschaft der Migrantenorganisationen in Deutschland erstellt wurde, die auch Ansatzpunkte für politisches Handeln liefert.
Dr. Nergiz betonte, dass die in der Studie vorgenommene Dreiteilung der Migrantenorganisationen in kulturpflegende, multifunktional teilhabeorientierte und (politische) Interessen vertretende Organisationen zu Forschungszwecken sinnvoll sei, in der Praxis diese Kategorisierung jedoch so trennscharf nicht möglich sei. Ihrer Meinung nach arbeiten alle Migrantenorganisationen teilhabeorientiert und auch die politische Interessenvertretung schließe alle drei Typen ein. Nergiz wies auf die Gefahr hin, dass der Eindruck entstehen könnte, dass kulturpflegende Organisationen sich nur auf ihre Herkunftskultur fokussieren und somit nicht teilhabeorientiert seien.
Frau Niewiedzial zeigte sich erfreut darüber, dass in der Studie ein Fortschritt erkennbar wird: die Partizipation von Migrantenorganisationen und die Kooperation mit ihnen sei mittlerweile selbstverständlich geworden. Der nächste Schritt sei für sie als Landesintegrationsbeauftragte nun, dass stärkere Verbindlichkeit geschaffen werden müsse. Besonders in Zeiten von Corona zeige sich, dass eine gesetzliche Grundlage und Verbindlichkeit für die wertvolle Arbeit von Migrantenorganisationen notwendig seien.
Dr. Kerber merkte dazu an, dass auch Sportverbände sich in Krisenzeiten nicht auf Gesetze stützen konnten, aber ihre Interessen gut organisiert vertreten. In einer Verbändedemokratie wie in Deutschland sei ausschlaggebend, dass Migrantenorganisationen ihre Interessen bündeln und dann politisch vertreten.
Auch Prof. Uslucan betonte, es sei wichtig, dass Migrantenorganisationen sich Gehör verschafften. Aus sozialpsychologischer Perspektive müssten Minderheiten auf verschiedene Maßnahmen zurückgreifen, wenn sie Einfluss gewinnen wollen. Dazu gehöre es, informativen Einfluss zu üben und ihre Perspektive immer wieder zu unterstreichen. Der SVR-Forschungsbereich empfehle dazu in seiner Studie, die Zusammenarbeit mit etablierten Akteurinnen und Akteuren, z. B. den Wohlfahrtsverbänden, zu suchen und systematische Kooperationen von etablierten Migrantenorganisationen sowie mit nicht-migrantischen Organisationen einzugehen.
Dr. Nergiz fügte hinzu, es gebe zwar mittlerweile die Einsicht, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei, von einer Einwanderungsgesellschaft sei man in der Praxis jedoch noch weit entfernt. Migrantenorganisationen sollten nicht nur bei Integrationsfragen einbezogen werden. Vielfalt müsse Normalität werden und diversitätsorientierte Strukturen müssten geschaffen werden. Besonders wichtig sei Vielfalt bezogen auf politische Teilhabe: „Alle Ministerien, nicht nur das BMI, müssen ihre Hausaufgaben machen“, so Nergiz.
Auf die Frage nach nachhaltiger Förderung von Migrantenorganisationen merkte Dr. Kerber an, dass es Bundesaufgabe nicht sei, einzelne Migrantenorganisationen zu fördern, sondern der Bund systematisch im Bereich der Strukturförderung bei Dachverbänden ansetze, die auf Bundesebene aktiv sind. Zudem habe man mit den Houses of Resources eine Möglichkeit geschaffen, um in der Fläche niedrigschwelligen Zugang zu Qualifizierung und anderen Ressourcen wie Räumlichkeiten für kleinere und vor allem ehrenamtlich aktive MO zu schaffen. Diese Förderung wolle das BMI im kommenden Jahr ausbauen. Er schließe sich außerdem der SVR-Studienempfehlung an, die Anliegen von MO und MO-Verbänden in Fachverbänden einzubringen. Auch Frau Niewiedzial bestätigte, dass die Frage, wen man fördere und wen nicht, schwer zu beantworten sein. Sie plädierte daher für eine gesetzliche Grundlage, um die Förderung auf kommunaler Ebene und Landesebene festzuschreiben. Eine gesetzlich verbindliche Partizipation sei besser als eine institutionelle Förderung einzelner Institutionen.
Während der gesamten Veranstaltung beteiligten sich die Teilnehmenden rege mit Fragen und Kommentaren im Chat. Ein wichtiger Punkt war hier beispielsweise die Frage, ob die empfohlene Zusammenarbeit von Migrantenorganisationen mit den etablierten Wohlfahrtsverbänden nicht einen Rückschritt der gewonnenen Unabhängigkeit darstelle. Auch die Rolle von Frauen in Migrantenorganisationen und die Frage, wie sich Engagement über die verschiedenen Generationen hinweg verändert hat, wurden diskutiert.
Weitere Informationen zu dem Forschungsprojekt erhalten Sie hier.
Ergebnispräsentation_Migrantenorganisationen
Die Teilnehmenden der Podiumsdiskussion und das Autorenteam des SVR-Forschungsbereichs bei der digitalen Fachkonferenz am 1.12.2020