Veranstaltungen – Sachverständigenrat

Neue Wege in der Flüchtlings- und Asylpolitik? Ambivalenzen, Kontinuitäten, Paradigmenwechsel

Fachkonferenz zur Vorstellung des SVR-Jahresgutachtens 2024 am 14. Mai 2024

Am 14. Mai hat der SVR sein neues Jahresgutachten mit dem Titel „Zwischen Öffnung und Restriktion: Die Migrations- und Integrationspolitik der letzten fünf Jahre“ einer breiten Fachöffentlichkeit vorgestellt. An der Fachkonferenz in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften nahmen rund 170 Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Verwaltung, Verbänden und Zivilgesellschaft teil.

Mit seinem diesjährigen Jahresgutachten zieht der SVR eine Bilanz der Migrations- und Integrationspolitik des vergangenen Jahrfünfts. Diese war in vielen Teilbereichen von einer außerordentlich hohen Dynamik geprägt. Besonderes Augenmerk legt das Jahresgutachten auf den Bereich Flucht und Asyl und zwar in Deutschland und auf Ebene der Europäischen Union, dem sich auch die Fachkonferenz widmete.

Bernd Krösser, beamteter Staatssekretär im Bundesministerium des Innern und für Heimat, eröffnete die Fachkonferenz. Als wichtiges Teilergebnis des Jahresgutachtens hob er hervor, dass angesichts der in den letzten Jahren deutlich erweiterten Möglichkeiten des aufenthaltsrechtlichen Zweckwechsels verlässliche Aussagen über die Attraktivität des deutschen Arbeitsmarktes für Arbeits- und Fachkräfte aus dem Ausland rein auf Basis der Zuzugszahlen zum Zweck der Erwerbstätigkeit kaum noch möglich seien. Mit Blick auf die Asyl- und Flüchtlingspolitik betonte Staatssekretär Krösser die Bedeutung der jüngst auf europäischer Ebene erzielten Einigung über eine neue europäische Gesamtarchitektur.

Prof. Dr. Hans Vorländer, Vorsitzender des SVR, stellte anschließend die zentralen Ergebnisse und Empfehlungen des Gutachtens zur deutschen und europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik vor. Er hob hervor, wo die politischen Entwicklungen von Kontinuität geprägt waren und an welchen Stellen auch Paradigmenwechsel vorgenommen wurden. Das Politikfeld der Asyl- und Migrationspolitik, so Prof. Vorländer, sei auch in dieser Berichtsperiode angesichts steigender Flüchtlingszahlen wieder dadurch gekennzeichnet, die strukturell in einem Spannungsverhältnis stehenden Ziele der Migrationssteuerung und der Integrationsförderung ausgleichend zu moderieren. Auch vor dem Hintergrund der damit einhergehenden Belastungen für die Aufnahmesysteme werde wieder verschärft über die Notwendigkeit einer Steuerung der Fluchtmigration oder gar Schließung (von Grenzen) diskutiert. Zugleich hätten mit dem Chancenaufenthaltsrecht geduldete Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland die Möglichkeit erhalten, durch den Nachweis von Integrationsbemühungen und die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit einen regulären Aufenthaltsstatus zu erwerben.

Die auf europäischer Ebene erreichte Neuausrichtung der Asyl- und Flüchtlingspolitik sei schon deshalb zu begrüßen, so Prof. Vorländer, weil die Europäische Union damit in einem äußerst schwierigen Politikfeld Handlungsfähigkeit bewiesen habe – und dies in einer für die europäischen Institutionen schwierigen Zeit. Allerdings müsse aus Sicht des SVR bei der nun anstehenden Umsetzung unbedingt darauf geachtet werden, dass bei der Umsetzung der neuen Regelungen menschen- und flüchtlingsrechtliche Standards eingehalten werden.

Gegenstand des Vortrags von Prof. Vorländer war auch die Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine über die EU-Richtlinie zum temporären Schutz. Angesichts der Tatsache, dass derzeit nichts für ein baldiges Ende des Krieges spreche, sollte die Politik auf europäischer und nationaler Ebene schnell für geeignete aufenthaltsrechtliche Optionen für den weiteren Verbleib der vor der russischen Invasion geflohenen Ukrainerinnen und Ukrainer sorgen.  

In der anschließenden Podiumsdiskussion diskutierte Prof. Vorländer gemeinsam mit Dr. Elizabeth Beloe, Vorstandsvorsitzende des Bundesverbands Netzwerke von Migrant*innenorganisationen e.V., PD Dr. Andrea Schlenker, Abteilungsleiterin im Referat Migration und Integration, Deutscher Caritasverband e.V., Dr. Kay Ruge, Beigeordneter des Deutschen Landkreistages, und Ulrich Weinbrenner, Leiter der Abteilung Migration, Flüchtlinge, Rückkehrpolitik im Bundesministerium des Innern und für Heimat, über die Bewertung der vorgenommenen Weichenstellungen sowie über weiter bestehende Herausforderungen im Bereich der Flucht- und Asylpolitik. Die Moderation übernahm Ferdos Forudastan, Geschäftsführerin der CIVIS Medienstiftung GmbH.

Dr. Beloe betonte die wichtige Rolle von Migrantenorganisationen bei der Aufnahme von Flüchtlingen und forderte eine stärkere finanzielle Unterstützung. Den auf europäischer Ebene erzielten Asylkompromiss sah sie äußerst kritisch: Deutschland trage mit seiner Zustimmung zu einer weiteren Abschottung Europas bei. PD Dr. Schlenker teilte die Einschätzung, dass der gefundene Kompromiss zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) eher als Rückschritt denn als Fortschritt zu bewerten sei. Daran würden auch Instrumente wie der erstmals beschlossene Solidaritätsmechanismus nichts ändern. Mit Blick auf die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine bewertete sie die in Deutschland praktizierte Doppellösung aus Aktivierung der Massenzustromrichtlinie und Rechtskreiswechsel positiv und regte an, die institutionellen Erfahrungen im Umgang mit der Fluchtmigration aus der Ukraine auszuwerten und gegebenenfalls auf andere Formen der Fluchtmigration zu übertragen. Ulrich Weinbrenner, der als Mitglied der deutschen Verhandlungsdelegation große Teile des gefundenen Kompromisses mit ausgehandelt hatte, verteidigte dagegen den Kompromiss. Aus seiner Sicht hat Deutschland auch vor dem Hintergrund einer zunehmend migrations- und asylkritischen Färbung in vielen europäischen Ländern das Maximum erreicht. Weitergehende Forderungen, etwa Familien und Minderjährige von der Verpflichtung auszunehmen, unter bestimmten Voraussetzungen ein Asylvorverfahren in Transitzentren zu durchlaufen, und die die Bundesregierung lange vertreten habe, seien nicht durchsetzbar gewesen. Auch aus Sicht von Dr. Ruge ist der gefundene Kompromiss positiv zu bewerten. Er warnte jedoch davor, schnelle und kurzfristige Entlastungen für die durch die Aufnahme von Flüchtlingen stark belasteten Kommunen zu erwarten. Er griff damit eine Warnung von Prof. Vorländer auf, der von „Erwartungsfallen“ gesprochen hatte. Mit Blick auf die Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge erläuterte Dr. Ruge die Position des Landkreistags: die unbürokratische Aufnahme über die Aktivierung der Massenzustromrichtlinie sei zwar richtig gewesen, der kurz darauf erfolgte Rechtskreiswechsel vom Asylbewerberleistungsgesetz in das Sozialgesetzbuch habe sich jedoch nicht bewährt.

PD Dr. Schlenker erkannte an, dass sich die Bundesregierung in den letzten Jahren durchaus um einen Paradigmenwechsel bemüht habe. Insbesondere das Chancenaufenthaltsgesetz und die damit verbundenen neuen Möglichkeiten des Zweck- und Spurwechsels verdienten aus ihrer Sicht Lob und Unterstützung. Dennoch dominiere weiterhin die ordnungspolitische Perspektive. Prof. Vorländer ergänzte, dass die mutigen Reformen in diesem Bereich auch mit der neuen Situation auf dem Arbeitsmarkt und konkret der sich verschärfenden Nachfrage zusammenhänge.

Was die Aufnahmesituation in den Kommunen betrifft, verwies Dr. Ruge auf eine von Prof. Vorländer bereits erwähnte aktuelle Umfrage unter Kommunen, wonach sich bereits 40 Prozent der Kommunen als überlastet bezeichnen. Ordnungspolitische Ansätze seien in dieser Lage dringend erforderlich, wenn man die Integration der Aufgenommenen gewährleisten wolle. Das zeige auch die nach wie vor hohe Zahl ausreisepflichtiger Personen.

In der lebhaften Diskussion, an der sich auch Expertinnen und Experten aus dem Publikum beteiligten, unterstützte eine Mehrheit der Teilnehmenden die – in unterschiedlicher Tonalität und Intensität – von Dr. Beloe und PD. Dr. Schlenker vertretene kritische Perspektive und wünschte sich weitergehende Öffnungen im Bereich der deutschen Migrationspolitik. Auch das Thema Diskriminierung und Rassismus dürfe dabei nicht ausgeblendet werden, so Dr. Beloe und weitere Vertretungen von Migrantenorganisation. Es schade nicht nur den Betroffenen, sondern auch der Attraktivität Deutschlands für Arbeits- und Fachkräfte.

Einigkeit herrschte darüber, dass nicht nur im Bereich der Flüchtlings- und Asylpolitik, sondern im gesamten Bereich der Integrations- und Migrationspolitik die Umsetzung der beschlossenen Maßnahmen in den nächsten Monaten und Jahren entscheidend sein wird.


Präsentation Fachkonferenz Jahresgutachten 2024 – Prof. Dr. Hans Vorländer

An der Konferenz nahmen rund 170 Interessierte
aus Politik, Verwaltung, Verbänden und
Zivilgesellschaft teil.

Bernd Krösser, Staatssekretär im
Bundesministerium des Innern und für Heimat,
eröffnete die Fachkonferenz.

Der SVR-Vorsitzende Prof. Dr. Hans Vorländer
stellt die Ergebnisse des SVR-Jahresgutachtens vor.

Auf dem Podium diskutierten (v.l.):
Ferdos Forudastan (Moderation), Dr. Kay
Ruge (Deutscher Landkreistag), PD Dr. Andrea
Schlenker (Deutscher Caritasverband e.V.), Ulrich
Weinbrenner (BMI), Dr. Elizabeth Beloe
(Bundesverband NeMo) und Prof. Dr. Hans
Vorländer (SVR).

Ulrich Weinbrenner, Leiter der Abteilung
Migration, Flüchtlinge, Rückkehrpolitik im
Bundesministerium des Innern und für Heimat
und Dr. Elizabeth Beloe, Vorstandsvorsitzende
des Bundesverbands Netzwerke von
Migrant*innenorganisationen e.V.

Dr. Kay Ruge, Beigeordneter des Deutschen Landkreistages

Prof. Dr. Hans Vorländer, Vorsitzender des Sachverständigenrats

Podiumsteilnehmende und Moderatorin (v.l.):
Ulrich Weinbrenner, Dr. Elizabeth Beloe,
Prof. Dr. Hans Vorländer, Ferdos Forudastan,
PD Dr.  Andrea Schlenker und Dr. Kay Ruge

Fotos: SVR/ Phil Dera