Veranstaltungen – Sachverständigenrat
Gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken, Vorbehalten begegnen: Einstellungen und Akzeptanz gegenüber migrationsbedingter Vielfalt
Virtuelles Fachgespräch zum SVR-Jahresgutachten am 23. November 2021
Der SVR lud am 23. November Expertinnen und Experten aus Nordrhein-Westfalen zu einem virtuellen Fachgespräch ein.
Prof. Dr. Birgit Leyendecker, Mitglied des SVR, stellte hierbei das aktuelle Jahresgutachten „Normalfall Diversität? Wie das Einwanderungsland Deutschland mit Vielfalt umgeht“ vor.
Gesellschaften werden immer heterogener und vielfältiger, wie die sozialwissenschaftliche Forschung der letzten Jahre und Jahrzehnte zeigt. Migration und die daraus resultierende Vielfalt ist dabei eine wichtige Dimension: Jede vierte Einwohnerin, jeder vierte Einwohner Deutschlands hat eine Zuwanderungsgeschichte. Damit stellen sich bestimmte Fragen: Welche Auswirkungen hat diese spezielle Facette von Heterogenität in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen? Wie handhaben gesellschaftliche Institutionen diese Heterogenität? Und vor allem: Wie kann vermieden werden, dass Diversität und Vielfalt in einer pluralen Gesellschaft – die mehrheitlich auch begrüßt wird – sich in (sozioökonomische) Ungleichheit übersetzt? Das Jahresgutachten 2021 des Sachverständigenrats befasst sich mit dem Umgang und mit Diversität in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen: Politik, Arbeitsmarkt, Kultur. Und es schaut auf die Einstellungen der Bevölkerung zu migrationsbedingter Vielfalt, denn Migration erfordert auch Veränderung von den Teilen der Bevölkerung, die schon immer oder schon lange im Land ansässig sind.
In der deutschen Bevölkerung ist die Akzeptanz von Diversität gestiegen; das zeigen entsprechende Langzeitdaten, wie Prof. Leyendecker in ihrer Vorstellung der entsprechenden Befunde des Jahresgutachtens hervorhob. Zuwanderung wird danach zunehmend als Bereicherung empfunden, und Zugewanderten wird grundsätzlich das Recht auf Teilhabe zugesprochen. Zahlreiche Studien haben jedoch für verschiedene Bereiche nachgewiesen, dass dort Menschen wegen ihrer Herkunft diskriminiert werden. Besonders gut dokumentiert ist dies für den Wohnungsmarkt und den Ausbildungsmarkt. Von erlebter Diskriminierung berichten besonders häufig Personen, die nach eigenen Angaben nicht typisch deutsch aussehen, d. h. die aufgrund ihres Äußeren als ‚fremd‘ eingeordnet werden. Hier gibt es jedoch weiterhin hohen Forschungsbedarf. Und auch wenn die Daten zeigen, dass ein klassischer Rassismus – also die Vorstellung, dass bestimmte Menschen von Natur aus minderwertig seien – kaum mehr Zustimmung findet, bedeutet das nicht, dass es rassistische Vorurteile und darauf basierende Diskriminierung nicht mehr gäbe. Subtilere rassistische Aussagen zu vermeintlich natürlicher Ungleichwertigkeit finden nach wie vor Zustimmung.
Prof. Leyendecker hob hervor, dass die gestiegene Akzeptanz von migrationsbedingter Vielfalt zentral damit zusammenhänge, dass Kontakte miteinander mittlerweile Alltagserfahrung vieler Bürgerinnen und Bürger seien. In Nordrhein-Westfalen bspw. haben knapp ein Drittel (31,2% bzw. 5,5 Mio.) der Menschen einen Migrationshintergrund. Von diesen sind etwa 40% in Deutschland geboren und 20% leben seit mehr als 30 Jahren hier. Unter Jugendlichen und Kindern liegt der Anteil im Bundesland noch höher, nämlich bei 45,8%. Aus den Daten zu Einstellungen lasse sich ableiten, dass sich eine zunehmend routinierte Einwanderungsgesellschaft manifestiert, die Einwanderung und ein von ethnischer Zugehörigkeit losgelöstes Staatsangehörigkeitsrecht weitgehend als Normalität anerkennt. Zugehörigkeit wird zunehmend inklusiv verstanden, eine Ungleichbehandlung aufgrund der Herkunft wird zunehmend abgelehnt und Zuwanderung wird zunehmend als kulturelle Bereicherung angesehen.
Die anschließende vertrauliche Diskussion mit Teilnehmenden aus Ministerien, Wirtschaft, Verbänden und Zivilgesellschaft wurde von der SVR-Geschäftsführerin Dr. Cornelia Schu moderiert.
Im Zentrum der Diskussion stand zunächst die allgemeine Einschätzung, dass die positive Entwicklung der Einstellungen im Zeitverlauf nicht darüber hinwegtäuschen dürfe, dass Diskriminierung und auch Rassismus nach wie vor vorhanden sind und entschieden bekämpft werden müssen. Dies sei gerade bei subtileren Formen der Diskriminierung nicht immer einfach. Einigkeit bestand darin, dass zwischen verschiedenen Formen von Diskriminierung unterschieden werden sollte; dies erleichtere es auch, präventive Maßnahmen zu ergreifen. Die Frage, wie die Gesellschaft und ihre Institutionen insgesamt diversitätssensibel ausgerichtet werden können, um eine möglichst gleichberechtige Teilhabe aller zu ermöglichen, bildete den zweiten Schwerpunkt der Diskussion. Hier könnten interkulturelle Trainings und Fortbildungen hilfreich sein, bspw. auch in der Lehrerbildung und der öffentlichen Verwaltung, entscheidend sei aber auch die Haltung der Führungskräfte und ein unmissverständliches Eintreten für entsprechende Werte.
Etwaige Vorurteile und Denkmodelle müssten hinterfragt werden, bspw. durch entsprechende Module, die in der Ausbildung oder im Studium ansetzen und dann in Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen im Berufsleben vertieft werden. Prof. Leyendecker betonte hierbei, dass man früh beginnen solle damit, Diversitätskompetenz zu entwickeln. Positive Entwicklungen seien zum Beispiel bei der bilingualen Erziehung zu verzeichnen. Kita und Schule komme hier eine wichtige Rolle zu. Hier wurde auf die Studie „Lernende stärken! Wie Lehrkräfte mit Weisen Interventionen wirken können“ des wissenschaftlichen Stabs des SVR verwiesen. In dem Projekt sei ein Handbuch mit einem Werkzeugkoffer in Kooperation mit der Bezirksregierung Arnsberg und Unterstützung des Schulministeriums entstanden, der nun in der Lehrkräftebildung und an Schulen eingesetzt werden könne.