Veranstaltungen – Sachverständigenrat
Rethinking EU’s Refugee Policies
Vorstellung des SVR-Jahresgutachtens 2017 am 13. Juli 2017 in Brüssel
In den Jahren 2015 und 2016 kamen mehr als 1.3 Millionen Flüchtlinge nach Europa. Allein Griechenland und Italien erreichen 2016 über 360.000 irreguläre Flüchtlinge auf dem Weg über das Mittelmeer. 80 Prozent aller Erstanträge wurden in nur fünf Mitgliedstaaten gestellt. Starke Unterschiede im Umgang der Mitgliedstaaten mit Asylsuchenden (bei der Aufnahme und Unterbringung, der Durchführung von Asylverfahren und bei der Schutzanerkennung) machen deutlich, dass die EU-Flüchtlingspolitik reformiert werden muss.
Der SVR unterbreitet in seinem 8. Jahresgutachten Vorschläge für eine Weiterentwicklung der EU-Flüchtlingspolitik. Diese Vorschläge stellten Prof. Dr. Petra Bendel und Prof. Dr. Daniel Thym am 13. Juli einem Brüsseler Fachpublikum vor. Die Veranstaltung wurde in Kooperation mit dem Hanse-Office, der gemeinsamen Vertretung der Freien und Hansestadt Hamburg und des Landes Schleswig-Holstein bei der Europäischen Union, durchgeführt.
In einer Einführung zur aktuellen Situation an den EU-Aussengrenzen stellte Dr. David Reisenzein, von Frontex dar, dass es in der ersten Jahreshälfte 2017 deutlich weniger Grenzübertritte als im Vorjahr gab. Der ‚Deal‘ mit der Türkei funktioniere also, allerdings steigt die Zahl der Flüchtlinge aus Afrika. Bei ihrer Vorstellung der Vorschläge des Sachverständigenrats betonten Prof. Bendel und Prof. Thym, dass der Schutz von Flüchtlingen ein gemeinsames europäisches Projekt ist und eine Umsetzung von ‚mehr Europa‘ in diesem Bereich dringend erforderlich sei. Auf dem Weg zu einer Vollharmonisierung der EU-Flüchtlingspolitik sind bereits einige wichtige Schritte erfolgt. So begrüßt der SVR beispielsweise die Aufwertung der Grenzschutzagentur Frontex und des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO). Wichtig sei jedoch, so Prof. Thym, dass Instrumente entwickelt werden, um die einheitliche Umsetzung der europarechtlichen Regeln sicherzustellen. Denn auch ein ausgefeiltes europäisches Regelwerk laufe ins Leere, wenn gemeinsam beschlossene Regeln nicht in allen Mitgliedsländern umgesetzt werden. Der SVR unterstützt daher die Bemühungen der Kommission, EASO zu einer Asylagentur mit mehr Kompetenzen auszubauen. Prof. Bendel betonte in ihrem Vortrag die Vorteile des Instruments der sicheren Herkunftsstaaten (z. B. verkürzte Verfahren und Vermeidung von Fehlanreizen), machte aber auch auf die Risiken aufmerksam (z. B. sei es schwieriger Menschenrechtsverletzungen zu erkennen). Sie kritisierte, dass es innerhalb der EU keine gemeinsame Liste sicherer Herkunftsstaaten gebe. Der SVR empfiehlt deshalb eine EU-weit einheitliche Liste, um Ungleichbehandlung zu vermeiden. Prof. Thym bemerkte weiterhin, dass das Kardinalproblem der Asyl- und Flüchtlingspolitik gegenwärtig in den fehlenden Mechanismen zur Verteilung von Flüchtlingsverantwortung liege. Hier müsse ein System der Entlastung und Hilfestellung geschaffen werden. Der SVR schlägt dazu ein Modell des regulierten „Free Choice“ mit einer sukzessiven Erweiterung von Freizügigkeitsrechten für anerkannte Flüchtlinge vor. Dies kann die Staaten an den EU-Außengrenzen, die weiterhin für die Verfahrensdurchführung sowie die Rückführung von als nicht schutzbedürftig anerkannten Flüchtlingen zuständig bleiben, durch Weiterwanderung entlasten. Statt passiver Umverteilung etwa über Quotenmodelle schlägt der SVR die Einführung eines dezentralen und über die anerkannten Flüchtlinge selbst beeinflussbaren Umverteilungsmechanismus in Form von Weiterwanderungsrechten vor. Eine Variante dieses Modells normiert Freizügigkeitsrechte primär als Suchrecht und koppelt die Niederlassung in einem Sekundärmigrationsland der EU an erfolgreiche Arbeitsmarktintegration. Eine zweite Variante des Modells versucht über sozialstaatliche Karenzzeiten Pulleffekte wie sozialstaatliche Mehraufwendungen für die Sekundärmigrationsstaaten zu begrenzen. Laut Prof. Thym bringt dieser Vorschlag komplexe politische Veränderungen mit sich, sei aber umsetzbar. Prof. Bendel ging weiterhin auf die Partnerschaft mit Drittstaaten ein. Laut SVR sollte die EU-Türkei-Erklärung nicht generell verdammt werden, da sie mit der perversen Logik bricht, dass nach dem gegenwärtigen Flüchtlingsrecht nur diejenigen ihr Recht auf Schutz in Anspruch nehmen können, die auf irregulären Wegen nach Europa kommen; diejenigen, die diesen Weg nicht einschlagen (können), bleiben im wahrsten Wortsinn ‚außen vor‘. Die EU-Türkei-Erklärung beendet diese ungleiche Chancenverteilung. Sie verdient also schon deshalb eine Chance, weil die eröffnete Möglichkeit des Resettlements helfen kann, die Zahl der Todesfälle im Mittelmeer zu reduzieren. Ein Kompass für die Zusammenarbeit mit Drittstatten, so Prof. Bendel, müsse aber immer die Einhaltung der Menschenrechte sein.
Die Vorschläge des SVR wurde von verschiedenen Migrationsexperten kommentiert: Matthias Ruete, Generaldirektor bei der Europäischen Kommission (Migration und Inneres) betonte, dass der Wunsch nach „mehr Europa“ ganz im Sinne der Kommission sei. Er zeigte sich hinsichtlich der Einführung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems und einer Europäischen Asylagentur jedoch wenig optimistisch, da nicht alle Mitgliedstaaten von dieser Idee überzeugt werden könnten. Nikolas Papageorgiou, der die Europaabgeortnete Birgitt Sippel vertrat, betonte, dass der Bedarf von legalen Einreisemöglichkeiten nach Europa nie größer gewesen sei und hier dringender Handlungsbedarf bestehe. Asyl und Migration dürfe dabei nicht vermischt werden. Papageorgiou dankte dem SVR für seine Ideen und warb für eine Zusammenarbeit aller Akteure bei der Umsetzung der Bewältigung dieser riesigen Herausforderung.
Weitere Kommentare zum SVR-Jahresgutachten lieferten Prof. Dr. Rainer Münz (European Political Strategy Centre); Stefan Maier (UNHCR); Doris Peschke (Churches’ Commission for Migrants in Europe); Ralph Genetzke (International Centre for Migration Policy Development); Thomas Jezequel (Eurocities).
Prof. Dr. Philippe de Bruycker (ULB, Odysseus Academic Network for Legal Studies on Immigration and Asylum in Europe) fasste in seinem Schlusswort zusammen, dass alle Beteiligten der Forderung nach ‚mehr Europa‘ zustimmen. Der Schlüssel dazu sei Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Laut de Bruycker sollte hier jedoch nicht auf ‚physische‘ Solidarität gebaut werden, sondern Wege einer operationalen und finanziellen Solidarität geschaffen werden.