Veranstaltungen – Sachverständigenrat

Systemrelevant: Migration als Stütze für die Gesundheitsversorgung in Deutschland

Fachkonferenz zur Vorstellung des SVR-Jahresgutachtens 2022 am 10. Mai 2022

Am 10. Mai stellte der SVR das neu erschienene Jahresgutachten mit dem Titel „Systemrelevant: Migration als Herausforderung und Stütze für die Gesundheitsversorgung in Deutschland“ auf einer Fachkonferenz einem breiten Fachpublikum vor. An der Fachkonferenz nahmen etwa 130 Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Verwaltung, Verbänden und Zivilgesellschaft teil.

In seinem diesjährigen Jahresgutachten untersucht der SVR die Rolle von Zugewanderten und ihren Nachkommen im deutschen Gesundheitssystem. Er analysiert, mit welchen Herausforderungen die Zuwanderung von Gesundheitsfachkräften verbunden ist und welchen Zugang Menschen mit Zuwanderungsgeschichte zu Gesundheitsversorgung haben. Auf dieser Basis gibt der SVR unter anderem Empfehlungen zur Rekrutierung neuen Fachpersonals und einer diversitätssensiblen Gestaltung der Gesundheitsversorgung.


Eröffnet wurde die Fachkonferenz von Juliane Seifert, Staatssekretärin im Bundesministerium des Innern und für Heimat. Sie unterstrich, dass angesichts des Krieges in der Ukraine und der Fluchtzuwanderung das Thema Integration derzeit eine besondere Relevanz erhalte. Die Bundesregierung habe sich vorgenommen, Zuwandernden von Beginn an passgenaue Unterstützungsangebote zur Verfügung zu stellen. Dazu gehöre auch, dass die Zuwanderung von Fachkräften erleichtert und deren betriebliche und soziale Integration stärker als bisher berücksichtigt würde. Staatssekretärin Seifert sprach sich zudem für eine diversitätssensible Gesundheitsversorgung aus, die allen zugutekomme.

Prof. Petra Bendel, Vorsitzende des SVR, stellte anschließend die zentralen Empfehlungen und Ergebnisse des Gutachtens vor. Sie hob hervor, dass 2019 fast ein Viertel der Erwerbstätigen in den Gesundheitsberufen einen Migrationshintergrund hatte. Besonders hoch war der Anteil in der Altenpflege und unter Ärztinnen und Ärzten. Um die Anerkennung im Ausland erworbener Qualifikationen zu verbessern, forderte sie einen Effizienz- und Transparenzschub bei den Verfahren. Zudem stellte sie die Empfehlung des SVR vor, verstärkt Auszubildende anzuwerben, um umfangreiche Anpassungsqualifizierungen und Transferprobleme zu umgehen. Sie unterstrich, dass bei der Rekrutierung aus dem Ausland Fairness gegenüber den Zuwandernden ebenso wie gegenüber deren Herkunftsländern gewahrt werden müsse. Außerdem müsse die Integration zugewanderter Fachkräfte in den Einrichtungen und am neuen Wohnort stärker mitgedacht und unterstützt werden.

Mit Blick auf den zweiten Teil des Gutachtens erläuterte Prof. Bendel, dass die gesundheitliche Lage einer Person in erster Linie von sozioökonomischen Faktoren bestimmt wird und nicht von einer etwaigen Migrationsgeschichte. Um bestehende rechtliche Hürden beim Zugang zu Gesundheitsleistungen für einzelne Gruppen von Ausländerinnen und Ausländern abzubauen empfahl sie, den Gesundheitsbereich von der Übermittlungspflicht auszunehmen, das System der Clearingstellen auszuweiten und die elektronische Gesundheitskarte einzusetzen. Außerdem solle die Diversitätssensibilität im Gesundheitswesen erhöht werden.

Im Anschluss an den Vortrag von Petra Bendel kamen ein Arzt und eine Krankenpflegerin in einem kurzen Video zu Wort und berichteten von ihren Erfahrungen bei der Zuwanderung nach Deutschland und als zugewanderte Fachkräfte. Deutlich wurde, dass es einen hohen Bedarf an Informationen gibt und zuwandernde Fachkräfte besonders in der ersten Zeit Unterstützung sowohl bei den administrativen Prozessen als auch bei den Anerkennungsverfahren und der Vorbereitung auf Prüfungen benötigen.


In der nachfolgenden Podiumsdiskussion diskutierte die SVR-Vorsitzende gemeinsam mit Prof. Dr. h.c. Christel Bienstein, Präsidentin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe, Isabell Halletz, Geschäftsführerin des Arbeitgeberverbands Pflege, Kristin Hecker, Leiterin der IQ-Fachstelle Beratung und Qualifizierung am Forschungsinstitut Betriebliche Bildung, sowie dem Bereichsleiter Internationales der Bundesagentur für Arbeit, Stephan Heuke, wie sich die Zuwanderung und Integration von ausländischen Fachkräften im deutschen Gesundheitssystem verbessern ließe.

Isabell Halletz und Prof. Christel Bienstein unterstrichen übereinstimmend, dass der Fachkräftemangel in der Pflege seit Jahren groß sei und sich in letzter Zeit weiter verschärft habe. Prof Bienstein wies darauf hin, dass zwar mehr Ausbildungsplätze geschaffen worden seien, es aber eine sehr hohe Abbruchquote gebe.

Auf die Frage, inwieweit Flüchtlinge aus der Ukraine als Fachkräfte ins Gesundheitswesen integriert werden könnten, erläuterte Kristin Hecker von der IQ-Fachstelle Beratung und Qualifizierung, dass diese ebenso wie alle anderen zuwandernden Gesundheitsfachkräfte ein Verfahren zur Anerkennung ihrer Qualifikation durchlaufen müssten. Mit dem Anerkennungsgesetz sei die Grundlage dafür geschaffen worden, dass Fachkräfte dort beruflich weitermachen könnten, wo sie in der Heimat aufgehört haben, egal aus welchem Grund sie zugewandert seien. Es gebe aber noch Verbesserungspotenzial. So würden einheitliche Bescheide die Bearbeitung erleichtern und es ermöglichen, modularisierte Nachqualifizierungen anzubieten. Mehrfach wurde zudem auf fehlende Digitalisierung verwiesen, die zu langen Bearbeitungszeiten führe, sowie auf die Vielzahl an unterschiedlichen Stellen im Einwanderungsprozess, deren Zusammenarbeit teilweise nicht optimal laufe.

Prof. Bienstein erklärte, dass die Prüfung der Qualifikationen in reglementierten Berufen nötig sei, zumal sich die Ausbildungen gerade im Pflegebereich teilweise stark unterschieden. Beispielsweise sei die Pflegeausbildung in vielen Ländern stärker medizinisch und weniger pflegerisch orientiert oder es fehlten Kenntnisse im Umgang mit Demenzerkrankungen und im Bereich Prävention. Ankommende müssten daher gut auf das Berufsbild in Deutschland vorbereitet werden. Ein weiterer wichtiger Punkt sei das Sprachniveau: Auch bei Vorliegen eines B2-Zertifikats reichten die Kenntnisse in der Praxis häufig nicht aus, um mit Patientinnen und Patienten und deren Angehörigen kommunizieren zu können. Auch Isabell Halletz unterstrich, dass Arbeitgebende die sprachliche Qualifizierung über das Niveau B2 hinaus fördern sollten.

Stephan Heuke von der Bundesagentur für Arbeit erläuterte, dass die Agentur in einem mehrstufigen Verfahren potenzielle Partnerländer für Anwerbemaßnahmen oder Vermittlungsabsprachen identifiziere, darunter seien derzeit neben den Philippinen und Indonesien Jordanien, Mexiko und nordafrikanische Länder. Der größte Teil der Rekrutierung laufe allerdings über private Agenturen.

Prof. Bendel hob das Programm Triple Win hervor, das hohe Standards setze und die Teilnehmenden schon im Vorfeld gut vorbereite. Auch das Modell der Global Skills Partnerships, bei denen die Ausbildungskapazitäten in den Herkunftsländern gezielt unterstützt werden und nur ein Teil der Fachkräfte im Anschluss ins Zielland migrieren, habe Potenzial.

Stephan Heuke sprach sich dafür aus, insgesamt für niedrige Hürden und attraktive Angebote zu sorgen, um Zuwanderungswillige aus aller Welt anzuziehen, und sich weniger auf die gezielte Anwerbung in einigen wenigen Ländern zu konzentrieren. Isabell Halletz unterstrich, dass neben den Hürden auch die attraktiven Rahmenbedingungen in Deutschland gesehen werden müssten, die andere potenzielle Zielländer nicht bieten können, etwa unbefristete Arbeitsverträge, die Möglichkeit des Familiennachzugs und das kostenlose Bildungssystem sowie die gute Gesundheitsversorgung.

Prof. Bendel forderte, das Onboarding angeworbener Fachkräfte zu verbessern, sodass diese auch langfristig blieben. Prof. Bienstein wies darauf hin, dass durch die schlechten Arbeitsbedingungen nicht nur zugewanderte Fachkräfte zurück ins Herkunftsland gehen oder weiterwandern, sondern auch viele einheimische Kolleginnen und Kollegen den Beruf verlassen. Man müsse daher für alle Fachkräfte die Bedingungen verbessern, dazu sei eine umfassende Gesundheitssystemreform nötig. Für Entlastung sorgen könne dann auch die Rückkehr ausgestiegener Fachkräfte – hier gebe es oft eine entsprechende Bereitschaft, sofern sich die Arbeitsbedingungen besserten. Die Einarbeitung zugewanderter Kräfte sei eine zusätzliche Belastung für die ohnehin stark beanspruchten Fachkräfte, dies könne auch zu Ausgrenzung führen. Isabell Halletz verwies ebenfalls darauf, dass besonders kleine Träger angesichts der angespannten Personalsituation keine umfangreichen Integrations- und Beratungsangebote leisten könnten. Unterstützungsangebote seien zu wenig bekannt.


Es schloss sich eine lebhafte Diskussion unter Beteiligung der Expertinnen und Experten aus dem Publikum an. Hier wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass das Thema Diskriminierung und Rassismus im Gesundheitswesen diskutiert und angegangen werden müsse. Prof. Bendel erläuterte, dass hierzu mehr empirisch geforscht werden müsse. Ein wichtiger Faktor sei der enorme Zeit- und Effizienzdruck, der Stereotypisierungen begünstige. Zudem müsse Diversitätssensibilität in der Medizinerausbildung sowie in den Ausbildungsgängen von Gesundheitsfachkräften stärker berücksichtigt werden. Auch das Thema Sprachmittlung wurde angesprochen. Hierfür müssten mehrgleisige Lösungsansätze gewählt werden, unterstrich Prof. Bendel, wobei auch bei Modellen wie Community Interpreting oder der Hinzuziehung mehrsprachigen Personals die Übersetzenden entsprechend aus- bzw. weitergebildet und angemessen entlohnt werden müssten.


 

 

Präsentation Fachkonferenz Jahresgutachten 2022 - Prof. Dr. Petra Bendel

(Zum Vergrößern Bilder bitte anklicken)

Staatssekretärin Juliane Seifert bei ihrer Begrüßung.

SVR-Vorsitzende Prof. Dr. Petra Bendel bei der Vorstellung der Ergebnisse des SVR-Jahresgutachtens.

Auf dem Podium diskutierten (v.l.): Kristin Hecker, Isabell Halletz, Prof. Dr. Petra Bendel, Gerhard Schröder (Moderation), Prof. Dr. h.c. Christel Bienstein und Stephan Heuke.

An der Konferenz nahmen 130 Interessierte aus Politik, Verwaltung, Verbänden und Zivilgesellschaft teil.

 

Fotos: SVR/Michael Setzpfandt