Veranstaltungen – Sachverständigenrat
„Gesundheitliche Chancengleichheit – auch eine Frage der Zuwanderungsgeschichte?“ – NRW
Virtuelles Fachgespräch zum SVR-Jahresgutachten 2022 am 1. September 2022
Der SVR lud am 1. September 2022 Expertinnen und Experten aus Nordrhein-Westfalen zu einem virtuellen Fachgespräch über das aktuelle Jahresgutachten „Systemrelevant: Migration als Stütze für die Gesundheitsversorgung in Deutschland“ ein. Prof. Dr. Birgit Leyendecker, Mitglied des SVR, präsentierte hierbei die zentralen Befunde des Gutachtens zur gesundheitlichen Lage und gesundheitlichen Chancengleichheit von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte.
Die meisten Menschen, die ohne deutschen Pass in Deutschland leben, sind heute regulär krankenversichert und haben rein rechtlich vollen Zugang zu allen Leistungen des Gesundheitssystems. Für einige wenige Teilgruppen wie Asylsuchende und irregulär aufhältige Personen gilt dies jedoch weiterhin nicht – hier übernimmt der Staat die Versorgung nur in eingeschränkter Form. Doch auch wenn rein rechtlich für die Mehrheit keine Zugangsbeschränkungen gelten, gibt es Hürden, die den chancengleichen Zugang zu Gesundheitsleistungen für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte erschweren oder die Versorgungsqualität beeinträchtigen können. Dazu zählen Sprach- und Kommunikationsbarrieren, Diskriminierung und eingeschränktes Orientierungswissen über die Strukturen, Regeln, Angebote und Optionen der Gesundheitsversorgung in Deutschland. Im Mittelpunkt des Fachgesprächs standen die Fragen, wie die gesundheitliche Chancengleichheit von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte verbessert und bestehende Versorgungslücken geschlossen werden können.
In ihrem Vortrag erläuterte Prof. Leyendecker zunächst, wieso sich ein Migrationshintergrund an sich weder positiv noch negativ auf die gesundheitliche Lage eines Menschen auswirkt. Erklärungskraft entfaltet der Migrationshintergrund erst, wenn er in Wechselwirkung mit weiteren Heterogenitätsmerkmalen betrachtet wird. Besonders mit Blick auf geeignete Maßnahmen zur Steigerung gesundheitlicher Chancengleichheit sei diese Erkenntnis zentral. So zeigen die verfügbaren Daten beispielsweise deutlich, dass ein niedriger sozioökonomischer Status die Gesundheitschancen negativ beeinflusst. Menschen mit Migrationshintergrund haben hier insofern ein gesteigertes Risiko für eine schlechtere gesundheitliche Lage, als sich das Merkmal Migrationshintergrund statistisch überdurchschnittlich mit einer nachteiligen sozialen Lage verknüpft.
Prof. Leyendecker skizzierte daraufhin zentrale Empfehlungen des Rates zur Verbesserung der gesundheitlichen Chancengleichheit von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte. Dazu gehören die Abschaffung der Übermittlungspflicht im medizinischen Bereich, um die Situation irregulär aufhältiger Personen zu verbessern, sowie eine möglichst flächendeckende Einführung der elektronischen Gesundheitskarte für Anspruchsberechtigte nach AsylbLG, um deren Gesundheitsversorgung zu entbürokratisieren. Da sich Lücken im Krankenversicherungsschutz von Zugewanderten aber häufig nicht mehr durch fehlende Rechte erklären, sondern z. B. durch Wissenslücken über die eigenen Rechte oder Schwierigkeiten bei der Bewältigung erforderlicher Bürokratie, empfiehlt der SVR zudem, Clearingstellen zum Krankenversicherungsschutz auszubauen. Eine zentrale Erkenntnis des Gutachtens lautet, dass zur Steigerung der gesundheitlichen Chancengleichheit von Menschen mit wie ohne Migrationshintergrund in erster Linie diversitätssensible Regeldienste erforderlich sind.
Die anschließende vertrauliche Diskussion mit den Teilnehmenden aus Wissenschaft, Kommunen, Wirtschaft, Verbänden und Zivilgesellschaft wurde von der SVR-Geschäftsführerin Dr. Cornelia Schu moderiert.
Deutlich wurde hierbei, dass diversitätssensible Gesundheitskommunikation und zuverlässige Möglichkeiten zur Sprachmittlung im stationären wie auch ambulanten Bereich als zentrale Baustellen diversitätssensibler Gesundheitsversorgung wahrgenommen werden. Für viele Teilnehmende bilden die möglichst flächendeckende Verfügbarkeit von seriösen und leicht verständlichen Gesundheitsinformationen, patientenorientierte Kommunikation und auch Mehrsprachigkeit zentrale Merkmale eines diversitätssensiblen Gesundheitswesens. Einig waren sich die Teilnehmenden darin, dass die Pläne der Bundesregierung, Sprachmittlung für medizinisch notwendige Leistungen zukünftig in SGB 5 (Gesetzliche Krankenversicherung) zu verankern, grundsätzlich zu begrüßen sind. Gleichzeitig sei klar, dass Strukturen zur Vergütung von Sprachmittlung noch nicht alle Probleme lösen. Es müsse beispielsweise zudem über Schulungen fortlaufend sichergestellt werden, dass auch semiprofessionelle Sprachmittelnde ein zutreffendes Verständnis von der Rolle eines Übersetzers bzw. einer Übersetzerin haben.